In der indischen Philosophie werden die drei traditionellen Wege des Yoga beschrieben: Karma-Yoga, der Weg des selbstlosen Tuns, Bhakti-Yoga, der Weg der Liebe und der Hingabe und Jnana-Yoga, der Weg des wahren Wissens, der geistige Weg der Erkenntnis. Der Begriff Yoga bedeutet im Sanskrit Vereinigung, Verbindung, Praktiken zur Reinigung aller Ebenen des Körpers und Geistes auf dem Weg zur höchsten Erkenntnis, zu Gott. Hierin finden wir bereits eine Spur, die der Frage nachgeht: Was ist Integraler Yoga? Integral meint hier die Beschreibung einer Vereinigung im Menschen, der Vereinigung zwischen der vollständigen Erfüllung unseres Wesens mit dem Absoluten, wie auch zwischen den Wegen dorthin.
Sri Aurobindo (1872-1950), der große indische Weisheitslehrer, gilt als Begründer des Integralen Yoga.1 In den folgenden Worten zeigt er das Wesen des Integralen Yoga in seiner Umfassendheit: „Der Integrale Yoga ist zugleich ein Aufstieg der Seele hin zu Gott und eine Herabkunft der Gottheit in die verkörperte Natur.“ Diesen Prozess der Vereinigung mit dem Göttlichen und dessen Offenbarung in allen Bereichen menschlichen Lebens beschreibt er als „ … ein vollständiges Sich-Selbst-Geben unseres Wesens und unserer Natur in all ihren Teilen, Wirkweisen, Bewegungen an das, was wir verwirklichen. Unser Mental, Wille, Herz, Leben und Körper, unsere äußere, innere und innerste Existenz, unsere überbewussten, unterbewussten wie auch unsere bewussten Teile müssen alle hingegeben werden, müssen alle zu einem Mittel werden, zu einem Feld dieser Verwirklichung und Transformation – und sie müssen an der Erleuchtung und an der Umwandlung des menschlichen in ein göttliches Bewusstsein, der menschlichen in eine göttliche Natur teilhaben. Dies ist das Wesen des Integralen Yoga.“ 2
Das hat auch Konsequenzen auf sehr praktischen Ebenen spiritueller Handlungen. Es braucht eine Lebensführung, die am Einen orientiert ist, nicht am Vielen. Normalerweise pendelt der Mensch zwischen Polaritäten der Welt hin und wieder zurück, er geht in das eine Extrem und denkt, indem er in das gegenteilige Extrem wechselt, kommt das Pendel zur Ruhe, gelangt er in die Mitte. Die Mitte finden wir nur in der dritten Position des Pendels, am Nullpunkt. Um die endlose Pendelbewegung zu verlangsamen und zum Stillstand zu bringen, braucht es die Tugend der Mäßigung. Der Weg in die Mitte führt über die Vermeidung jeglicher Extreme, über Verzicht auf jedes Zuviel, auf alles „Unnotwendige“.
„Der Integrale Yoga versucht, alle Yoga-Wege, viele spirituelle Disziplinen, Pfade zur Befreiung und Vervollkommnung, Wege des Geistes hin zu Gott, in der Essenz zu vereinigen. (…) Es genügt nicht, nur über den Weg des denkenden Mentals oder den Weg des Herzens in das Göttliche einzutreten – oder über den Weg des Willens im Wirken oder durch eine Veränderung des Stoffes unserer psychologischen Natur oder durch eine Freisetzung der vitalen Kraft im Körper. Es muss durch all dies gemeinsam getan werden – und durch eine Umwandlung unseres eigentlichen Sinnes- und Körperbewusstseins, bis hin zur materiellen Unbewusstheit, die sich des Göttlichen bewusst und von seinem Licht durchdrungen werden muss. (…) Yoga ist die Vereinigung mit Gott als Wissen, Liebe und Wirken.“ 3
Alle spirituellen Wege, alle Erwachenswege der Menschheit, gleich innerhalb welcher Tradition, unterscheiden die zwei großen spirituellen Wege des aufsteigenden Bogens und die Wege des absteigenden Bogens; den Weg des Wissens, der absoluten Erkenntnis und den Weg der Liebe und Hingabe. OM C. Parkin beschreibt in seinem spirituellen Lehrbuch „Intelligenz des Erwachens“ die Wege des Aufstiegs und des Abstiegs, die Wege der Evolution und der Involution als universales energetisches Geschehen.4 Die beiden Richtungen können zwar getrennt eingeschlagen werden, aber nicht getrennt vollendet werden, denn sie entsprechen den zwei kosmischen Urkräften und ihren gegenläufigen Bewegungen, welche die Urpolarität des geschaffenen Universums ausmachen: die rechte und die linke Hand Gottes. Über die linke Hand führt der weibliche Weg des Abstiegs in die Liebe und den Tod und über die rechte der männliche Weg des Aufstiegs in die Wahrheit und das Leben. Doch Liebe ohne Wahrheit ist wertlos. Und Wahrheit ohne Liebe ist wertlos.
„Der Aufsteiger, er muss gleichzeitig wieder absteigen,
nur so kann er in die Höhe fallen.“
In die Höhe zu fallen, das meint die innere Vereinigung der Kräfte des Aufstiegs und der Kräfte des Abstiegs, die Union des aufsteigenden und des absteigenden Bogens, die Vereinigung auf dem paradoxen Weg.
Die realisierte Gegenwart der Großen Harmonie gleichzeitigen Auf- und Abstiegs, die evolutiv-involutive Vereinigung, das ist die erste Lehre des Integralen Yoga, die kleine Hochzeit. Die Lehren zum Großen Fluss, dem Fluss der drei Gehirne, und damit verbunden auch zu harmonischer, integraler Lebensführung bereiten diese Hochzeit vor. Die zweite, die große Lehre des Integralen Yoga ist die Große Hochzeit, das ist die Vereinigung zwischen GOTT und Welt, GOTT und Evolution; SEIN und Werden. Die Hochzeit zwischen dem Absoluten, dem SEINSgrund und dem Relativen, jeglicher Phänomenalität.
Yoga ist erst dann integral, wenn er das Transzendente gefunden hat und nun wieder in das Universum zurückkehrt, um es in Besitz zu nehmen. Die jenseitigen Erfahrungen verlangen nach Ausgeglichenheit mit den diesseitigen. Und umgekehrt.5
________________________________________________________________________________
1 Sri Aurobindo, geboren 1872 in Kalkutta, ab 1910 widmete er sich an seinem Wirkungsort in Pondicherry (Südostindien) ganz seinem inneren spirituellen Leben und Wirken. 1926 gründete er gemeinsam mit seiner spirituellen Mitarbeiterin, Mira Alfassa (auch Die Mutter genannt), den Sri Aurobindo Ashram. Bis zu seinem Tod 1950 lebte er dort ein sehr zurückgezogenes Leben und widmete sich ausschließlich der Verwirklichung des Integralen Yoga.
2 aus: Sri Aurobindo, Essays Divine and Human, S. 358; und
Aus der Tiefe der Weltenseele, Weisheitstexte gesprochen von OM C. Parkin, eingebettet in eine Klangkulisse des Ambient-Musikers Mathias Grassow, 4 CDs und Booklet, advaitaMedia
3 Auszüge aus: Sri Aurobindo, Essays Divine and Human, S. 356-357 und
Aus der Tiefe der Weltenseele, s.o.
4 E-volution, Ent-faltung des Lebens – In-volution, Ein-faltung, Ein-wicklung; aufsteigender Bogen und absteigender Bogen, dargestellt im Symbol der Doppelhelix. Im zeitlichen Verständnis des ewigen Wandels stellt sich das Leben als eine ständige Abfolge dieser gegenläufigen Bewegungen dar. Jeder energetischen Expansion folgt eine energetische Zusammenziehung, jeder Zusammenziehung folgt eine Expansion. Siehe OM C. Parkin, Intelligenz des Erwachens – Die spirituelle Neugeburt des Menschen
advaitaMedia, S. 159 ff.
5 inhaltlich entnommen aus: OM C. Parkin, Spirituelle Meisterschaft – Lehrer und Schüler auf dem inneren Weg, advaitaMedia.
Bleib in Kontakt