MICHAEL GLEICH IM GESPRÄCH MIT OM C. PARKIN, SOMMER 2004
Quelle: www.peace-counts.org
Michael Gleich, freier Journalist aus München, Buchautor und Initiator des Projektes "Peace Counts", für das dieses Interview mit OM entstanden ist. Peace Counts recherchiert und dokumentiert weltweit Vorbilder für Frieden und bereitet sie für ein breites Publikum auf. Es geht um charismatische Friedensstifter, die sich besonders engagiert, kreativ und glaubwürdig für das gewaltfreie Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Rasse, Hautfarbe und Kultur einsetzen. Die Reporterteams waren bereits in über 20 Konfliktregionen, von Afghanistan bis Zypern. Das Ziel lautet: Friedens- statt Kriegsberichterstattung. In das interdisziplinäre Projekt bringen renommierte Konfliktforscher die wissenschaftliche und Publizisten die mediale Kompetenz ein. Um möglichst viele Menschen zu erreichen, setzt das Projekt auf Multimedia. Die Inhalte werden über die Medien Buch, Magazin, Hörfunk, Fernsehen und Internet verbreitet sowie als Lehrmaterialien für Schulen. Partner sind unter anderem die Deutsche UNESCO Kommission und das Auswärtige Amt. Weitere Infos: www.peace-counts.org. Für Michael Gleich war das Interview mit OM eine Gelegenheit, das Thema "Frieden " aus einer spirituellen Dimension heraus zu beleuchten.
Frage: Ist in den meisten Menschen die Sehnsucht nach Frieden größer als die nach Krieg?
OM C. Parkin: Sicher die nach wahrem Frieden. Krieg ist die unvermeidliche Folge der Unwissenheit des Menschen über sich selbst. Er weiß nicht, wer er ist. Er lebt in einem Zustand, in dem er viele Teile von sich selbst abgespalten hat (*1 - siehe Glossar), die er als fremd und bedrohlich betrachtet - und folglich bekämpfen will. Solange das so ist, wird es nie einen Welt ohne Krieg geben. Weltfrieden, das ist häufig eine romantische Vorstellung von Pazifisten, die wenig über die notwendige Polarität von Krieg und Frieden verstanden haben.
Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Frieden im Inneren eines Menschen und dem Frieden in der äußerlich sichtbaren Welt?
Krass ausgedrückt, ist der äußere Frieden ein Nebenprodukt des inneren Friedens. Das Thema selbst existiert ja einzig im menschlichen Geist (*2), er bringt dieses Konzept hervor. Ein Tier hat dieses Konzept nicht. Die meisten Menschen beschäftigen sich ausschließlich auf einer vom Geist nach außen projizierten Ebene und bleiben damit an der Oberfläche. Wie bei einem Baum: Man kann ihn nur auf der Ebene der Krone betrachten, oder man kann unter die Erdoberfläche gehen, zu den Wurzeln - als Bild für das Innere des Menschen. Angenommen, der Baum ist von Läusen befallen, dann bringt es nichts, sich damit nur auf der Ebene des Kronendach zu beschäftigen und die Blätter gegen Läuse zu behandeln. Man muss bis zu den Wurzeln der Krankheit gehen. Eine innere Sicht würde fragen: Bekommen die Wurzeln womöglich einen vergifteten Lebenssaft? Die Blätter zu behandeln ist nicht ausreichend.
Für die FriedensmacherInnen, die wir im Peace Counts project besucht haben, ist es vermutlich eine herbe Enttäuschung zu hören: Ihr laboriert nur an den Symptomen herum.
Es ist ja möglich, Symptome zu behandeln und gleichzeitig die Wurzeln. Wenn Menschen inneren Frieden erlangen, wird der äußere Frieden folgen. Das liegt daran, dass ein Spiegel nie etwas anderes zeigen kann als das, was in ihn hineingeworfen wird. Aber nur den Spiegel zu verändern, bewirkt vielleicht kurzfristig Linderung, beseitigt aber nicht den Quell der Gewalt, der viel tiefer liegt.
Was sind diese Quellen von Gewalt im Menschen?
Jede Gewalt geht ursprünglich von der Identifikation eines Menschen mit dem Gedanken "Ich" aus (*2). Das ist der Moment, der in der Genesis als Sündenfall beschrieben wird, das ist der Fall aus dem Paradies, der Moment in der "Göttlichen Komödie" von Dante Alighieri, wo der Teufel aus Stolz "Ich" sagt im Angesicht Gottes. Es gibt viele Beschreibungen dieses einen Momentes, in dem sich ein "Ich" abtrennt, das nicht mehr eins ist mit der Welt, mit dem Leben, mit dem Sein (*3) - und das deshalb voller Angst steckt. Aus dieser Angst wachsen dann all die Traumbilder von Bedrohung und Gefahr heraus, all die Feindseligkeit im menschlichen Leben. Menschen agieren im Außen feindselig gegen all das, was sie in ihrem Inneren abgespalten, was sie nicht integriert haben. Insofern ist die äußere Handlung eine Spiegelung von Gewalt gegen sich selbst. Gewalt entsteht im Geist, d.h. in Denkkonzepten, die wie unsichtbare Geschwüre in der Innenwelt der Menschen wachsen. Ein normaler Mensch hat als Gradmesser für Gewalt nur das, was er in der äußeren Welt sieht. Dort sind die Rollen eindeutig verteilt: Hier der Gewaltanwender, dort der Friedfertige. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Es ist naiv zu glauben, dass Gewalt und Krieg dort entstehen, wo sie nach außen treten und sichtbar werden.
Dies zugrunde gelegt: Welche Charakterzüge zeichnen einen Friedensmacher aus, der - bildlich gesprochen - bis an die Wurzeln geht?
Aus meiner Sicht ist ein wahrer Friedensmacher ein Mensch, der sein Leben dem inneren Frieden widmet.
Liegt also die Lösung für Konflikte eher im Nicht-Tun als im "Frieden machen"?
Die Vorstellung, dass ein Aktivist mehr Frieden in der Welt schafft als irgendein einfacher Bauer, der irgendwo still vor sich hin sein Land bebaut, ist eine Illusion. Dennoch hält sie sich hartnäckig. So wurde indischen Meditationslehrern und Erleuchteten immer wieder von westlichen Aktivisten vorgeworfen, sie seien passiv und weltfremd und würden nichts tun für diese Welt, sprich: Der Erleuchtete behalte seine Erleuchtung nur für sich. Diese Aktivisten verstehen die ganze Welt als Aktivität und Bemühung und begreifen nicht den anderen Pol, die Passivität, die Nicht-Bemühung. Es gibt ja keine "Friedenspassivisten". Nun zeigen uns wissenschaftliche Disziplinen wie die Chaostheorie, dass es keinen linearen Zusammenhang zwischen Aktion und erzieltem Ergebnis gibt; ihr Verhältnis ist oft unvorhersehbar, nicht-linear, chaotisch. Insofern nähern sich Wissenschaft und Spiritualität neuerdings an. Denn auf dem inneren Weg leitet uns die Lehre über die Kunst des Nicht-Tuns. Insbesondere westlichen Menschen fällt dieses Verständnis schwer; als spirituell Suchende glauben sie beispielsweise: Je mehr ich innerlich arbeite, desto mehr geschieht. In Wirklichkeit gilt: Je weniger ich innerlich tue, desto mehr geschieht. Das ist das Mysterium des Chaos...
.. was tatsächlich nicht einfach zu verstehen ist.
Vielleicht hilft ein Beispiel. Ramana Maharshi, einer der größten spirituellen Meister aller Zeiten, war ein Lehrer, der sich um keinen einzigen Schüler beworben hat. Er wurde im Kellergewölbe eines verlassenen Tempels buchstäblich gefunden, nach vielen Jahren der Einsamkeit. Und dann passierte etwas, das jeden so genannten Aktivisten überraschen muss: Ausgerechnet ein Lehrer, der fast nicht gesprochen hat, wird zu einem der größten Lehrer inneren Friedens und löst unglaublich viele Aktivitäten aus, Bücher, Stiftungen, eine ganze spirituelle Bewegung. Er war vielleicht einer der wirkmächtigsten Friedensbeweger des vergangenen Jahrhunderts - vollkommen absichtslos, völlig unvorhergesehen.
Wenn sich jemand in der äußeren Welt für Frieden einsetzt: Kann das ein Weg zu innerem Frieden sein?
Sicher, denn eine äußerlich friedfertige Haltung und Handlung zu kultivieren, ist immer schon Teil eines religiösen Weges gewesen. Im Christentum, im Hinduismus, im Buddhismus, in allen großen Religionen. Damit kann ein Zugang geschaffen werden zu einer inneren Welt, in der die Quelle jeder Gewalt ausfindig gemacht werden kann. Aber ob ein Mensch zum Frieden in der Welt beiträgt oder nicht, kann an seinen Handlungen nicht wirklich bemessen werden. Zwei Menschen können die äußerlich gleiche Handlung vollziehen. In dem einen Fall, wenn sie natürlicher Ausdruck eines inneren Friedens ist, dient sie auch dem äußeren Frieden, in einem anderen Fall, wo ein Mensch seine innere Gewalt leugnet und sie lediglich mithilfe gesellschaftlicher Moralvorstellungen im Zaum hält, werden seine Handlungen nicht dem Frieden in der Welt dienen.
Was halten Sie von Aktionen wie "Meditieren für den Frieden"?
In der New Age-Bewegung ist eine Art Friedensromantizismus ausgeprägt. Da verabreden sich alle übers Internet an einem bestimmten Tag mit besonderer astrologischer Konstellation, um mit einer Lichtmeditation Frieden in die Welt zu bringen. Das sieht erstmal nett aus, ist aber fürchterlich naiv, solange sie glauben, mit einem äußeren Ritual sei es getan, und sie nicht in ihrer inneren Welt gegen die Heuchelei und Gewalt des denkenden Geistes vorgehen.
Gehen Sie soweit zu sagen, dass Friedensstifter, wie wir sie im Projekt Peace Counts porträtiert haben, sogar Schaden anrichten, weil sie mit ihrem Aktivismus von den inneren Ursachen von Krieg ablenken?
Nein. Jeder muss das tun, was zu tun ist. Und jeder kann nur das tun, was seinem Verständnis entspricht. Das ist nicht schädlich, das ist nicht dienlich, es ist einfach ein Teil des energetischen Gesamtablaufs. Ich sage weder: Geht für den Frieden demonstrieren, noch sage ich: Geht nicht demonstrieren. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, selber rauszugehen und aktiv zu werden, wenn sich z.B. in Deutschland in der Regierung faschistoide Tendenzen zusammen brauen würden. Es ist ganz natürlich, aus einer inneren Welt, in der ich mich als verinnerlichter Mensch bewege, heraus zu treten und für den äußeren Frieden zu kämpfen.
Sind Sie selbst ein Friedensmacher?
Im Außen mache ich weder Krieg noch mache ich Frieden. Ich bin an innerem Frieden interessiert. Deshalb zeige ich Menschen ihre Missverständnisse über sich selbst auf, konfrontiere sie mit der Weise, wie sie an sich selbst vorbei schauen. Wenn die geistigen Kräfte eines Menschen, die friedvollen und die kriegerischen, in ihrer natürlichen Balance sind, dann wird die im Menschen vorhandene Aggression niemals in destruktive Gewalt ausarten. Aggression ist eine natürliche Kraft - es gibt kein einziges fühlendes Wesen auf der Welt, das sie nicht besitzt. Sie ist immer dann konstruktiv und schöpferisch, wenn sie nicht getrennt ist vom liebenden Wesen des Menschen.
Wie unterscheiden Sie "kriegerische Energie" von Gewalt?
Es wird immer kriegerische Energie auf der Welt geben, was aber nicht unbedingt bedeutet, das daraus Gewalt wird. Das sah man bei Urvölkern, die noch mehr Wissen über polare Kräfte besaßen als heutige Gesellschaften. Sie entwickelten Rituale, um die vorhandene kriegerische Energie im Falle von Auseinandersetzungen gewaltfrei auszuleben. Das zelebrierten sie etwa durch Tänze, bei denen sich die Krieger wie zwei Heere gegenüber standen und in kämpferischen, stampfenden Bewegungen den Krieg symbolisch durchführten. Ich selbst praktiziere östlichen Kampfsport, bei dem etwas Ähnliches geschieht: Zwei Kämpfer treten im Respekt göttlicher Gesetze gegeneinander an und leben kriegerische Energie aus - sie treffen sich ja nicht zum Blumenpflücken -, aber ohne dass Gewalt entsteht. Einen Gegner, den ich respektiere, werde ich niemals ernsthaft gefährden.
Sie sind einer der Mitinitiatoren eines Projektes, das in Ostdeutschland, auf Gut Saunstorf, einen "Ort der Stille" realisieren wird. Trägt solch ein modernes Kloster zum Frieden bei?
Er ist als Ort der Einkehr, der Lehre und der Stille in jeder Hinsicht dem Frieden gewidmet. Und dennoch ist es kein Ort, wie vorhin dargelegt, der kriegerische Energie ausschließt. In Frieden zu sein ist immer die Folge von innerer Integration (*4) und niemals von Ausschluss. Aber genau das versuchen viele Friedensmacher: Sie bekämpfen den Krieg, statt die kriegerische Kraft in den Frieden mit einzubeziehen. Nur so, in der Integration, wird sich ein natürliches Gleichgewicht ganz von selbst einstellen. Diese Balance pendelt alle Kräfte dieser Welt ein - sofern nicht der denkende Geist eingreift und sie mit seinen Ideen manipuliert.
Wenn Sie in einer Konfliktregion lebten: Was würden sie tun, um dort Frieden zu schaffen?
Ich würde die Menschen lehren, damit aufzuhören, das im Außen zu bekämpfen, was sie selbst in sich nicht annehmen wollen. Diesen Zusammenhang würde ich aufzeigen, damit sie ihre Aufmerksamkeit erstmal auf sich selbst richten, um zu sehen, was sie wirklich tun. Jeder Mensch, selbst der brutalste Gewaltanwender hat in seinem tiefsten Wesen eine Friedensabsicht. Das Absurde ist ja, dass jeder Krieger, der seinen Gegner niederkämpft, das Gleiche will: Er glaubt, innerlichen Frieden in dem Moment zu erreichen, wo er all seine Gegner getötet hat und die Bedrohung nicht mehr existiert.
Sind Frauen das friedlichere Geschlecht?
Nein. Frauen sind einfach nur anders gewalttätig als Männer. Schauen wir doch auch hier tiefer als nur auf die äußere Erscheinung. Es gibt das Männliche und das Weibliche. Im Mann lebt beides, in der Frau ebenso. Männer in ihrem natürlichen Wesen sind genauso wenig gewalttätig wie Frauen. Zwar besitzt männliche Kraft die bereits erwähnte kriegerische Energie, und weil Männer im Normalfall stärker die Repräsentanten männlicher Kraft sind, führen sie auch häufiger Krieg als Frauen. Aber das lässt eben nicht den Rückschluss zu, dass Männer grundsätzlich gewalttätiger sind. Der denkende Geist in der Frau ist genauso gewalttätig - nur dass er vielleicht subtilere und heimlichere Formen lebt, die oft an ganz anderen Orten, in ganz anderen Menschen ausbricht. Das lehrt die systemische Sicht in der Psychologie. Passive Gewalt ist die gefährlichste und undurchschaubarste Form von Gewalt. Sie nutzt andere, aktive Orte, um auszubrechen.
Wie zeigt sich dieses versteckte Wirken?
Ich habe ein dafür sehr aufschlussreiches Buch mit Liebesbriefen von Frauen an Adolf Hitler gelesen. Während des Krieges standen die Frauen zwar aufgrund der Rolle, die ihnen die Gesellschaft zugewiesen hatte, scheinbar außen vor. In Wirklichkeit, und davon erzählen diese brieflichen Anbetungen Hitlers, haben sie extrem dazu beigetragen, im deutschen Volk die Gewaltspirale nach oben zu treiben. Sie haben die Männer geradezu in den Krieg geschickt.
Weisen wir oft Menschen die Schuld für Krieg und Gewalt zu, die er gar nicht hat, weil er in ein komplexes System eingebunden ist?
Wir kennen ja alle das Thema des Sündenbocks, das in der Jahrtausende alten christlich-jüdischen Tradition immer wiederkehrt. Einer muss Schuld sein, damit sich alle anderen ihre Unschuld beteuern können. So war es auch nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Deutschen mit dem Satz "Ich war´s ja nicht, Hitler war´s" die Schuld wegdrücken wollten. Ich warne vor simplifizierten Grundannahmen, die viele Friedensmacher haben. Wir müssen uns die tiefer liegenden Gesetzmäßigkeiten anschauen. Der Zusammenhang, dass ein Mensch, der gewalttätig handelt, nicht unbedingt gewalttätiger ist als andere, die nur gewalttätig denken - diese Wahrheit muss verstanden werden.
Wir denken oft in dem Gegensatzpaar Täter/Opfer. In fast allen Konfliktregionen wird ein Mythos aufgebaut, aus dem heraus jede Partei verkündet: Wir sind die Opfer in diesem Krieg - und begeht dann aus diesem Bewusstsein heraus fürchterliche Taten...
Ja, hier ist der Konflikt zwischen Israel und Palästina ein gutes Beispiel. Beide fühlen sich als Opfer und benutzen das als Rechtfertigung für Gewalt, für die keine der Parteien die volle Verantwortung übernimmt. Opfer sind nicht erkenntnisfähig, nicht einsichtig in das Wesen der Dinge. Indem sich das Ich als Opfer identifiziert, diese Rolle annimmt, weigert es sich, die Verantwortung für die eigene Gewalt anzunehmen. Opfer sind genauso gewalttätig wie Täter.
Sagen Sie das auch einer Frau, die mit vorgehaltener Kalaschnikow vergewaltigt worden ist?
Ich weiß, dieser Zusammenhang erscheint vielen Menschen als harter Tobak. Aber wir müssen verstehen, dass Gewalt eben nicht dort ausbricht, wo sie entstanden ist. Dem Zeitpunkt, an dem sie sichtbar wird, ist ein innerer, geistiger Prozess vorausgegangen. Die Gewalt hat sich in Gedankenwelten lange aufgebaut, bis sie eine Stärke erreicht, dass sie nach außen tritt. Grausame Momente geschehen nicht "plötzlich" und nicht zufällig, sondern sie haben eine Geschichte innerer Gewaltprozesse. Die Frau in der von Ihnen geschilderten Situation ist - von außen betrachtet, also körperlich - in der schwächeren Position. Aber es muss deutlich gesagt werden, dass in ihr ein langwieriger geistiger Gewaltprozess dieser Situation vorausgegangen ist. Genauso wie in dem Mann, der sie vergewaltigt.
Gibt es also ein unsichtbares Gesetz der Gewalt, das die Handlungen der beiden auf grausame Art miteinander verstrickt?
So ist es. Das sieht man, wenn man beobachtet, was danach passiert. Die vergewaltigte Frau lebt ja nicht unbedingt für immer in der Opferrolle. Sie wechselt früher oder später zwangsläufig in die Täterrolle, ein Vorgang, den wir grundsätzlich im menschlichen Denken feststellen. Der Schwächere wird zum Täter, sobald er sich stärker fühlt; dann nutzt er seine Stärke und übt Gewalt aus. Aus der Psychologie wissen wir beispielsweise, dass Kinder, die von Eltern missbraucht worden sind, später die Tendenz haben, ihrerseits Missbrauch zu treiben, gegen sich oder gegen andere. Sie leben weiterhin nach dem Gesetz der Gewalt.
Sie haben mal gesagt: "Erst wenn ein Mensch die volle Verantwortung für das übernimmt, was geschehen ist, tritt er heraus aus dem Zirkel gegenseitiger Schuldzuweisungen zwischen Tätern und Opfern".
Menschen müssen den Satz akzeptieren, "ich bin verantwortlich für mein Leben, für alles, was in meinem Leben geschieht". Ich spreche mit diesem Satz den denkenden Geist im Menschen an und teile ihm mit, dass das Leiden, das er erfährt, von ihm selbst geschaffen ist, dass es sein eigenes ist und dass er dafür Verantwortung übernehmen muss. Logischerweise kann es nur an genau dem Ort gelöst werden, an dem es auch entsteht, nämlich im Geist des Menschen. Dies zu akzeptieren, ist bereits der erste Schritt zur Befreiung. Die vollständige Annahme des Konzeptes von persönlicher Verantwortung erlaubt es dem Menschen, zu einem noch tieferen Verständnis von unpersönlichen energetischen Abläufen vorzudringen. Auf dem weiteren inneren Weg wird sich zeigen, dass persönliche Verantwortung wieder aufgegeben werden kann.
In Post-Konfliktgebieten engagieren sich Friedensinitiativen oft für die Versöhnung zwischen den verfeindeten Gruppen. Sie an einen Tisch zu bringen, um gemeinsam das Geschehene aufarbeiten - alles nur vergebene Liebesmüh, weil alles nur äußerlich?
Nein. Auch Menschen, die nicht auf dem inneren Weg nach den Quellen des menschlichen Leidens suchen, haben immer wieder einen natürlichen Zugang zum Innen. Einfach, weil sie vom Leben so tief berührt werden, dass sie wieder beginnen zu fühlen. Und solch ein Mensch entwickelt Mitgefühl, mit sich selbst und mit anderen, und hat Zugang zu dem Gefühl von Liebe, aus dem heraus die natürliche Hinwendung zum anderen geschieht. Und das ist ein Akt der Versöhnung. Ein Mensch, der in der Selbsterforschung einer tieferen Realität näher gekommen ist, wird auf natürliche Art und Weise Mitgefühl mit sich selbst, mit der Menschheit, mit der Natur, mit der ganzen Welt entwickeln. Dabei wird er jedes Interesse, gewaltsam gegen andere Menschen zu handeln, schlicht verlieren.
OM, vielen Dank für dieses Gespräch.
MICHAEL GLEICH IM GESPRäCH MIT OM C. PARKIN, SOMMER 2004
Glossar spiritueller Begriffe
(*1) Abspaltung: Negierung von Elementen des menschlichen Seins, zu denen der Körper, Gedanken, Erfahrungen gehören. Gegenteil von Integration
(*2) Menschlicher Geist: Konstrukt aus inneren und nach außen projizierten Ideenwelten, die aus der Identifikation eines Menschen mit dem Gedanken "Ich" resultieren; in Abgrenzung vom Selbst, vom wahren Wesen des Menschens
(*3) Sein: Andere Begriffe sind Selbst, Bewusstsein, Glückseligkeit. Gemeint ist das unsterbliche Selbst des Menschen, als ursprüngliches Wesen, eine Ur-Natur, die allen Menschen eigen ist
(*4) Integration: Einbeziehung und Bewusstwerdung aller Elemente des menschlichen Seins. Gegenteil von Abspaltung.