„Wir werden, was wir schon sind.“ Das ist das grundlegende Paradoxon des inneren Weges, ein Koan, welches nur durch die Vereinigungslehre einer Philosophie des Werdens und einer Philosophie des Seins gelöst werden kann.
Die Philosophie des Werdens beschreibt die große Ordnung der Evolution des Bewusstseins, die Entfaltung von menschlicher Intelligenz, seine Vervollkommnung. Ramesh Balsekar nannte es „Das Bewusstsein-in-Bewegung“. Sie beschreibt auch den Dualismus des Manifesten, der relativen Welt, in der sich Subjekt und Objekt gegenüberstehen: Seher und Gesehenes, Ich und Du. Ich und Wir. Ich und die Welt. Ich und das SELBST. Mensch und Gott.
Die Philosophie des Seins beschreibt die Einheit jenseits der Welt der Phänomene. Das-was-ist, immer war, und immer sein wird. Ewig. Die Nicht-Dualität. Das Unmanifeste. Das Absolute. Ramesh Balsekar nannte es „Das Bewusstsein-in-Ruhe“.
Die höchste Philosophie, sie ist weder eine Philosophie des Werdens, der Vielheit, noch eine Philosophie des Seins, der Einheit. Sie ist eine Vereinigungslehre. Eine Philosophie des SEINS. Advaita als die Lehre der Nicht-Zweiheit kann nur so verstanden werden, denn Nicht-Zweiheit ist weder Zweiheit, noch Einheit. Sri Aurobindo nannte die Vereinigungslehre Integraler Yoga. Die Vereinigung zwischen Werden und Sein, zwischen den absteigenden und den aufsteigenden Pfaden, zwischen Yin und Yang, zwischen Liebe und Wahrheit.
Um den Weg der Entfaltung der Seele zu gehen, dazu bedarf es zunächst „bewusster Anstrengungen“ (Gurdjieff). “Damit ist eine Innenkehr gemeint, eine Drehung der Aufmerksamkeitsrichtung um 180 Grad. Sie initiiert das Beschreiten, die Innere Arbeit eines nach innen gerichteten, eines inneren Weges“ (Intelligenz des Erwachens, S. 196). Ein gewöhnlicher Mensch, ein Mensch des äußeren Weges, vollbringt diese bewussten Anstrengungen nicht. Seine Bequemlichkeit hält sie nicht für nötig, seine Suche nach Erfüllung treibt ihn hinaus in die Welt. Alle Menschen suchen, doch wenige suchen wirklich in der Welt, die wir Innen nennen. Weisheitslehrer aller Zeiten und aller Traditionen eint der Fingerzeig auf das innere Tor. Nur wer durch das innere Tor schreitet, vorbei an den Wächtern, die ihn prüfen, findet Glückseligkeit. Eine Glückseligkeit, von der die Meister berichten, nicht zu verwechseln mit dem vergänglichen Glück menschlicher Liebe, oder anderer (vorübergehend) erfüllter Wünsche. Eine Glückseligkeit des SEINS. Eine Glückseligkeit, die weder kommt, noch geht, weil sie ein innewohnender „Geschmack“ realisierter menschlicher Natur ist. Selbst während schmerzhafter Erfahrungen verliert der sich seiner selbst bewusste Mensch nicht mehr diesen latenten „SEINS-Geschmack“. Alle bewussten Anstrengungen des inneren Weges, die in reiner Absicht geschehen, legen früher oder später diesen „SEINS-Geschmack“ frei.
„Wenn ihr ein normaler Mensch bleiben wollt, nur ein Same eures eigenen Potentials, dann braucht ihr die Innere Arbeit nicht. … Aber wenn ihr als ein Mensch leben wollt, dann müsst ihr eine gewisse Anstrengung aufbringen, um zu erkennen, wie die Innere Arbeit die Lebensrettungsleine für wirkliches Leben ist“, schreibt der spirituelle Lehrer Almaas, der in den USA eine Innere Schule leitet.
Es gibt zwei formulierte Ziele des inneren Weges des Menschen: Erstens die Reifung in den Zustand menschlichen Erwachsenseins und zweitens das Erwachen des Menschen zu seiner wahren Natur. „Der spirituelle Weg ist nicht für Kinder“, so umschreibe ich manchmal den Umstand, dass der Eintritt in die spirituelle Sphäre ein erwachsenes menschliches Fundament voraussetzt. So dient ein großer Teil der angewandten Inneren Arbeit noch nicht auf direkte Weise dem Erwachen zum wahren SELBST, sondern dazu, geistig-emotionale Hindernisse einer vorgestellten, kindlich geprägten Vergangenheit aus dem Wege zu räumen, sodass der innere Blick -rein und geklärt- sich auf das Wesentliche richten kann, auf die Erforschung des wahren Wesens. Nur ein relativ entspannter Geist, nur ein relativ friedvoller Geist mit geringer unterbewusster Triebkraft ist gewöhnlich dazu in der Lage.
Der direkteste Weg, der „weglose Weg“ ist die direkte Schau des Absoluten. Das Sehen des SELBST. Darshan. Diese radikale, direkte Schau, sie durchdringt alles, selbst das Konzept eines zu beschreitenden Weges: Mystik ist Hinwendung zu formlosem Gewahrsein. Sie ist das Innerste, der Kern einer jeden Religion, eines jeden spirituellen Weges. Als ihr einziges Mittel lehrte der indische Weise Ramana Maharshi die Selbstergründung mittels der Frage Wer bin ich? Ich habe sie die Große Selbsterforschung genannt und ihr die kleine Selbsterforschung gegenübergestellt, wie sie durch die inneren Disziplinen des Weges geschieht. Sie fragt: Wer bin ich nicht? In einem integralen, vereinigenden Verständnis dient diese innere Praxis des Weges – die Innere Arbeit – der Entschleierung, ja der Entleerung der Welt des Geistes und ermöglicht die mystische Schau. Die kleine Selbsterforschung dient der Großen Selbsterforschung. Ausgedrückt in einem Bild: Ist der Himmel wolkenverhangen, ist das Gewahrsein des Himmels zunächst begrenzt, denn das Bewusstsein beschäftigt sich mit den Wolken, nicht mit dem Himmel. Ist der Himmel jedoch wolkenfrei, ist auch der innere Blick frei.
Der Schüler: „Meister, was sind die Stationen des inneren Weges?“ Der Meister: „Die Suche. Das Ende der Suche. Der Weg. Das Ende des Weges. Der Weg.“
Kommentar: Ist die Suche zu Ende, beginnt der Weg. Ist der Weg zu Ende, beginnt der Weg.