Die Große Ordnung der Ewigen Philosophie, der Weisheitslehre jenseits von Zeiten und Kulturen, beschreibt zwei für den denkenden Geist unvereinbare Ströme spiritueller Lehre: Die Philosophie des Seins und die Philosophie des Werdens. [Anmerkung der Redaktion: Auf die Philosophie des Seins wird unter dem Menüpunkt Advaita näher eingegangen.] Der Vierte Weg beschreitet den zweiten Strom der inneren Lehre. Diese erlaubt dem Menschen nicht nur, seine wahre Natur zu erkennen, sondern offenbart als Philosophie des Werdens das verborgene Wissen über die Evolution des Bewusstseins. Hier wird ein äußerst differenziertes und praktisches Wissen über das Entfaltungspotenzial der Seele sowie über grundlegende Hindernisse dieser Entfaltung zur Verfügung gestellt. Georges I. Gurdjieff (1866-1949), griechisch-armenischer Weisheitslehrer, ist der bekannteste Vertreter der Schulen des Vierten Weges und eröffnet besonders durch die Schriften seines Meisterschülers P.D. Ouspensky das Wissen um den Vierten Weg im Westen.
Während sich die Lehre des Seins nicht interessiert für das, was vergänglich und für einen avatara1 nicht-existent ist – der Geist, das Ego, der fixiert-begrenzte Standpunkt eines Menschen – besteht ein wesentlicher Kern der Lehre des Vierten Weges in der Aussage: Der Mensch besteht aus zwei! inneren Systemen. Er ist ein geteiltes Wesen, bestehend aus einem natürlichen, sich seiner selbst bewussten Menschen und einer maschinenhaften, automatisch und unbewusst funktionierenden Imitation seiner selbst. Menschliche Entwicklung findet nicht selbstverständlich dadurch statt, dass der Körper altert und ein Mensch reicher an Erfahrung wird, sondern ausschließlich dadurch, dass eine Unterscheidungskraft entwickelt wird zwischen der Maschinenhaftigkeit einer geistigen Welt und der Natürlichkeit der Seele. Auf dem Vierten Weg wird dieses Wissen der Unterscheidung u.a. durch klare Erkenntnis über die eigene Begrenztheit vollkommen zur Verfügung gestellt und genutzt.
„Das Hinstreben eines denkenden Geistes zum Großen Geist, es verlangt die Unterwerfung des denkenden Geistes. Unterwerfen kann sich jedoch nur der, der sich zuvor die Beschränktheit seiner ihm zur Verfügung stehenden Mittel eingestanden hat. Nur auf diese Weise kann er sich integrieren und transzendieren. Transzendieren, das klingt immer nobel, aber Transzendieren bedeutet eben auch Sterben. Wenn sich das hyperaktive, in Wiederholungsschleifen gefangene Denken wieder aus seiner Fixierung im Mentalzentrum in den Großen Kreislauf des Menschen entleeren kann, dann ist der Übergang von Rajas zu Sattva möglich. Dann öffnet sich für den Menschen eine neue Dimension des inneren Raumes, von Gurdjieff auch als der Vierte Weg beschrieben.“ 2
Ein wesentliches Hindernis der Selbsterkenntnis für den westlichen Menschen ist seine grundlegende „Verkopfung“. Neben der Tatsache, dass sein Bauch- und Herzzentrum geschwächt und im wahrsten Sinne dieses Wortes unterbelichtet ist, wirkt im Geist der meisten Menschen eine falsche Standortbestimmung: Der westliche Mensch glaubt zu verstehen, indem er an die Wahrheit von intellektuellen und theoretischen Konzepten glaubt. Diese Identität eines „Wissenden“ verhindert die Aufnahme von wahrem Wissen, so dass der innere Weg einen Suchenden zuerst in das Eingeständnis führen wird, ein Nicht-Wissender zu sein. Er beginnt aufzuwachen, indem er sich bewusst wird, dass er schläft! Er beginnt, sich zu öffnen für wahres Wissen, indem er erkennt, dass er nicht weiß! Gurdjieff betont die Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit* als das höchste Ziel für den Erfahrungsweg eines suchenden Menschen. Ausschließlich der Nicht-Wissende ist zu dieser Erkenntnis fähig.
Die zwei großen spirituellen Pfade der Menschheit, die Erkenntnislehren des Seins und des Werdens, sie müssen in Einklang zueinander finden, um das vollendete Wissen im Bewusstsein des Menschen zu verwirklichen.
Mit dem Begriff des Vierten Weges geht auch derjenige der Vierten Geburt einher. Dies impliziert, dass es drei Wege und drei Geburten gibt, die dem Vierten Weg voran gehen. Die drei Geburten und die drei Wege erlebt und geht jeder Mensch während der Evolution, indem er drei sogenannte Intelligenzzentren mehr oder weniger entwickelt: Das Bauch-, das Herz- und das Kopfzentrum. Jedoch kann durch Fixierung in einem dieser drei Zentren, und, damit einhergehend, geistig-emotionalen Hindernissen in allen drei Zentren, die wahre, integrale Intelligenz nicht ausgebildet werden. Erst durch die sogenannte vierte Geburt entwickelt sich der Mensch in einen Bewusstseinszustand, in dem alle drei Zimmer*, also die drei Intelligenzzentren Bauch, Herz und Kopf, entfaltet, beseelt und im Großen Fluss miteinander wirken.
Für diesen Prozess braucht es die Kraft einer bewussten Anstrengung*, die Bereitschaft, das eigene Energieniveau entscheidend anzuheben durch die Arbeit an allen drei Zimmern gleichzeitig. Das Wissen um das Gesetz der Drei, nach dem sich die Schöpfung und alle Evolutionsprozesse entfalten, das Wissen um die drei Wege und ihre drei zentralen Hindernisse, das Erfahrungswissen um die drei Intelligenzzentren, all das dient als Grundlage für die innere Standortbestimmung und die Möglichkeiten zur Wandlung. Die Geburt aller drei Intelligenzzentren muss erneut, bewusst und vollständig in einer zweiten Inkarnation durchlaufen werden, damit die vierte Geburt und somit die Freilegung des gesamten menschlichen Potenzials möglich ist. Eine Geburt ins unbekannte, sich seiner selbst bewusste Sein, in dem der integrale Fluss der menschlichen Intelligenz zum Ausdruck kommt – was den Tod der mentalen Vorherrschaft eines Ichs bedeutet. Das ist das Ende der Unwissenheit und damit das Ende von karma.
„Der Mensch wird dreimal wiedergeboren. Diese drei Wiedergeburten auf dem inneren Weg beschreiben den Weg der „Geistigung“ des Menschen, seine Loslösung von der Welt der Materie. In der Natur schläft Gott, erst im Geist beginnt er zu erwachen. Wer Gott erkennen möchte, der geht den geistigen Weg. Durch die vollständige Öffnung des Mentalzentrums wird die Transzendenz konditionierten Menschseins möglich.“ 3
*Begrifflichkeiten aus dem Sprachgebrauch Gurdjieffs
1 avatara (avatāra, Sanskrit: Abstieg, Herabkunft): die Manifestation des höchsten göttlichen Prinzips in der Gestalt eines Menschen
2 Lesung & Dialog mit OM C. Parkin „Der Vierte Weg und die vierte Geburt“, 16.9.2022 Kloster Gut Saunstorf
3 Intelligenz des Erwachens S.194f, OM C. Parkin, advaitaMedia
Anmerkung: Eine ausführliche Erläuterung der Lehren des Vierten Weges in OMs Buch zur Inneren Wissenschaft, advaitaMedia 2025