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Die spirituelle Dimension des Enneagramms

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Ein Gespräch mit OM C. Parkin

OM, es geht in unserem Gespräch um das spirituelle Enneagramm. Dieses Werkzeug ist eine wesentliche Grundlage für die Innere Arbeit in der Schule und wir bieten auch eine 3-jährige Ausbildung an, in der das spirituelle Enneagramm vermittelt wird. Ich möchte dich einmal fragen, welchen Wert hat ein solches Werkzeug für einen Lehrer, der die Wirklichkeit realisiert und verkörpert? Wieso gibt ein Weisheitslehrer dem spirituellen Enneagramm eine wesentliche Bedeutung für seine Schüler und für einen Menschen auf dem inneren Weg?

Aus der Sicht des Absoluten ist die Bedeutung relativ. Es gibt vieles, fast alles, was nur relative Bedeutung besitzt auf dem inneren Weg. Du kennst ja dieses Bild, das ich häufig benutze, eine klassische Metapher vieler spiritueller Lehrer: dem Schüler werden Krücken an die Hand gegeben, bis er selber laufen kann. Ob eine Krücke eine Gehbehinderung oder eine Gehhilfe ist, das hängt nicht so sehr von der Krücke ab, sondern von dem Reifungsstadium des Weges, auf dem sich ein innerer Mensch befindet. Und auch das gehört zur Vermittlung des Enneagramms dazu: dass diese eingebettet ist in einen größeren Rahmen spiritueller Lehre, in dem einerseits die tieferen spirituellen Dimensionen dieses Werkzeuges Raum haben, aber eben andererseits auch vermittelt wird, dass es Grenzen hat. Es handelt sich beim Enneagramm um kein Konzept, welches die absolute Wahrheit vermitteln kann. Kein Konzept kann das. Aber es ist ein Konzept, das relative Wahrheiten von relativen Lügen, oder umfassender gesprochen: von Illusionen, durchaus unterscheiden kann, wenn es eingebettet wird in eine höhere spirituelle Lehre.

Ist diese Einbettung in die höhere Lehre dann auch das, was du die „spirituelle Dimension des Enneagramms“ nennst?

Das Enneagramm ist ja nur ein Spiegel, ein ziemlich genialer Spiegel, aber was aus diesem Spiegel herausgelesen werden kann, hängt von der Bewusstseinsstufe des Lesenden ab, bzw. des Lehrers, der in der Lage ist, dieses Instrument anzuwenden. Natürlich, die spirituelle Dimension des Enneagramms kann erst dann wirklich reifen, wenn das Enneagramm eingebettet in eine spirituelle Lehre vermittelt wird. Das Enneagramm selbst kann man nicht als eine rein spirituelle Lehre, auch nicht als ein spirituelles Konzept verstehen. Es ist eine multidimensionale Kosmologie. Die spirituelle Dimension ist der Kern dieser Kosmologie. 

Eine Frage, die ja oft gestellt wird: Wieso ist es überhaupt so wesentlich, meine Ich-Welt so gut zu kennen? Das ist auch eine Frage, die ich als Lehrerin für Innere Arbeit oft von Interessierten höre. Warum befassen wir uns überhaupt so intensiv damit, eine Kenntnis zu bekommen über die Ich-Strukturen, die wir ja letzten Endes gar nicht sind? Also Schein-Realitäten, wie du es vorher nanntest?

Es handelt sich um eine durchaus nachvollziehbare, aber naive Fragestellung, welche die Macht des sogenannten Unter-Bewusstseins -und damit die Macht des Gegners im Allgemeinen- grob unterschätzt. Die innere Lehre befasst sich mit Schein-Realitäten, nur um die Realität offenzulegen. Es geht nicht darum, die Ich-Struktur von oben bis unten und von hinten bis vorne in jedem Detail zu beschreiben. Es geht darum, die Dimension des Unter-Bewusstseins ins Bewusstsein zu holen. Der Großteil an Konzepten der sogenannten Ich-Struktur sind ist völlig unwesentlich für den Erkenntnisweg. Gerade mittels des Enneagramms können wir uns auf jene Knoten des Unter-Bewusstseins konzentrieren, die das gesamte Netz dieser Struktur zusammenhalten. Das ist ja gerade die große Stärke des Enneagramms. Das Unter-Bewusstsein wird von gewöhnlichen Menschen praktisch nicht gekannt und von denjenigen unterschätzt, die beginnen, den inneren Weg zu beschreiten. Das Enneagramm erlaubt einen unkorrumpierbaren Blick auf unsichtbare geistige Schattenstrukturen, es stellt einen ungetrübten Spiegel des Unter-Bewusstseins dieser Ich-Struktur zur Verfügung. Natürlich hat dieser Spiegel für eine reife Seele nicht mehr die gleiche Bedeutung, dennoch wird die Kenntnis des Enneagramms seiner Selbsterforschung wertvolle Hinweise geben, Hinweise über seine sogenannten vasanas, seine verborgenen Tendenzen, die mit fortschreitendem Weg subtiler werden. Verallgemeinernd gesprochen, befindet sich nur ein kleiner Teil der sogenannten Ich-Blase des Menschen, die „Spitze des Eisberges“, über der Wasseroberfläche. Der große Teil befindet sich unter der Oberfläche und den können wir als Unter-Bewusstsein, als Unter-Welt zusammenfassen. Es handelt sich um eine Welt der nicht-aufgestiegenen Gedanken, das sind Gedankenwelten, die der Wahrnehmung entzogen sind. Diese nicht-aufgestiegene geistige Welt hat die eigentliche Macht in der Schein-Realität des Ich eines Menschen, nicht seine wahrgenommenen „Probleme“, „Sorgen“, sein „Kummer“ oder seine „Ängste“. Der Mensch denkt, das Unterbewusstsein lenkt.
 

Du sprichst von Gedankenwelten, aber was ist mit unterdrückten Emotionen, also nicht-aufgestiegenen Emotionen und mit sogenannten Traumata?

Die spielen aus heilerischer Sicht auch eine wesentliche Rolle, aber am Grunde der Ich-Blase sind nicht Emotionen, sondern Ideen. Die höchste Erkenntnis verlangt nach Durchdringung dieser Ideen, am Ende der Ich-Idee selbst. Dafür kann der Spiegel des Enneagramms nicht mehr verwendet werden.

Das heißt, das Studium des Enneagramms kann eine Annäherung sein, kein endgültiges Instrument der Erkenntnis…

Ja, ich finde, es kann eine Annäherung sein und das ist viel! Wenn Menschen, die heilerisch oder in therapeutischer Funktion tätig sind, das Enneagramm kennen lernen, dann wäre es sicherlich naiv zu glauben, sie könnten das Wissen mental aufnehmen und in ihrer Arbeit anwenden, ohne dass sie selbst konfrontiert werden mit ihrem eigenen Unter-Bewusstsein. Es braucht also selbstverständlich eine gewisse Bereitschaft zu wirklicher Veränderung, denn innere Reifung geschieht durch Wandlung. Das Enneagramm ist kein Lehrkonzept, welches theoretisch wie im Frontalunterricht einer weltlichen Schule aufgenommen werden kann. Nicht umsonst steht es in der mündlichen Tradition, so wie jede ernstzunehmende Vermittlung der Weisheitslehre durch Lehrer und Meister.

Es braucht also aus der Perspektive des Lernenden immer beides: die Innere Arbeit UND das Erlernen des Handwerkszeugs, das ich dann in einem therapeutischen Beruf z.B. nutzen und anwenden kann.

Ich bin an viele Grenzen gestoßen, an die mich die Lehre des Enneagramms immer wieder auch geführt hat. Wie gehe ich als Enneagramm-Lehrer in einer Enneagramm-Sitzung mit diesen inneren Grenzen um, an die mein Gegenüber stößt?

Das Enneagramm hält dir einen Spiegel vor und wenn du nicht bereit bist, da genau hineinzuschauen, dann ist das dem Spiegel egal. Da kommt dann der Anwender ins Spiel als Vermittler, der dann an diesem Punkt in einer Enneagramm-Sitzung nachhakt. Ich tue das häufig mit der Frage: „Was ist es denn, was du wirklich willst?“ Es kann ja sein, dass ein Mensch an eine Grenze stößt in seinem inneren Prozess, aber diese Grenze nicht eine Grenze seines wirklichen, seines wahren Willens ist, sondern eine Grenze, die durch eine Abwehrstruktur des falschen Ichs gebildet wird. Und weil dieser Mensch das nicht unterscheiden kann in diesem Augenblick oder keine entschlossene Entscheidung trifft, gilt es hier Licht ins Dunkel zu bringen und ihm die Situation vor Augen zu halten, in der er sich gerade befindet: Welche Alternativen stehen ihm zur Verfügung? Also: An der inneren Grenze anhalten und zurückkehren ins Alte oder weitergehen und die Grenze überqueren? Wenn ein Mensch dann die Alternativen sichtbar vor Augen hat und sich dennoch entscheidet für das „Nein, ich will nicht“, dann ist das ja auch in Ordnung, aber er kann nicht mehr so tun, als wüsste er von nichts. Das ist nicht mehr ein Dickicht, ein Sumpf oder ein Nebel, um nur einige Metaphern zu nennen, wie Menschen das in solchen Momenten erleben, sondern eine halbwegs bewusste Entscheidung: „Nein, ich bin nicht bereit über diese Grenze zu gehen.“ Und dann sagt der Begleiter in dem Moment: „Danke, wir beenden die Sitzung oder wir beenden jetzt unsere Innere Arbeit.“ Wir wissen nicht, was dann passiert. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass Menschen in dem Moment, in dem ihnen der wahre Wille als Alternative zur Abwehr zur Verfügung steht, bereit sind, eine innere Grenze ganz natürlich hinter sich zu lassen.

Und über die Beschaffenheit innerer Grenzen gibt das Enneagramm ja auch detaillierte Informationen.

Ja, das ist eine der Hauptinformationen, die das Enneagramm der Egostrukturen vermittelt, nämlich die Grenzen deiner Welt aufzuzeigen, die -von wem auch immer- geschaffen worden sind und dann aufrecht erhalten werden durch ein strategisches Abwehrsystem. Es scheint zunächst schwer durchdringlich zu sein, tritt dann aber bei präziser Anwendung von Enneagramm-Wissen auf die eigene Erfahrung immer deutlicher zu Tage. Und dieses Sehen, dieses scharfe Sehen, ist immer der erste Schritt. Denn erst das Sehen kann überhaupt die Unterscheidung hervorbringen: ist das Ich oder ist das Nicht-Ich? Bin ich das oder bin ich das nicht? Gehört das überhaupt zu mir? Die anfangs gestellte Enneagramm-kritische Frage: „Warum beschäftigst du dich mit dem, was du letztlich gar nicht bist?“ ist ja im Grunde eine vorweggenommene Fragestellung. Eine Antwort auf diese Frage vermittelt der Moment scharfen Sehens mittels des chirurgischen Instrumentes, welches dir das Enneagramm zur Verfügung stellt. Wenn du nämlich sehen kannst, was das Nicht-Ich ist, dann brauchst du dich ja nicht mehr damit zu beschäftigen.

Innere Wege des Ostens befassen sich weniger mit dem Nicht-Ich.

Ich kann nur für westliche Schüler des Weges sprechen. Und ich habe im Laufe der Jahrzehnte nicht wenige erlebt, die mit höheren spirituellen Lehren in Kontakt waren, welche ganz direkt mit dem Finger auf das Absolute deuten. Und diese Menschen stellten genau diese Frage: „Warum sollen wir uns mit dem Ganzen beschäftigen, was wir nicht sind? Warum soll man sich überhaupt mit irgendetwas Relativem beschäftigen, wenn es doch eigentlich nur um das Absolute geht?“ Das Enneagramm der Egostrukturen zeigt uns, dass es bestimmte Egostrukturen gibt, die auf dem spirituellen Weg in diese Falle laufen.

Aber kann denn das Absolute, also GOTT zur Falle auf dem inneren Weg werden?

Die Falle ist ja nicht das Absolute selbst, sondern ein selbst geschaffenes Konzept vom Absoluten, von GOTT. Ein Verstehen von GOTT, ein Konzept von GOTT wird vom Ego geschaffen. Ein integraler Reifungsweg, der zur reinen Erkenntnis des Absoluten geführt hat, wurde nicht durchschritten, sondern das Ego erschafft, „versteht“ einfach ein Konzept des Absoluten, wo es sich dann aufhält. Die „Abkürzung in den Himmel“, um es bildlich zu sagen. Diese Falle steht in Zusammenhang mit der tiefgreifendsten Leidenschaft des Egos: der Bequemlichkeit. „Warum soll ich mich mit den Niederungen des Menschseins befassen, wenn ich direkt in den Himmel aufsteigen kann?“ fragt sie. Diese Haltung führt an Punkt 9 des Enneagramms der Egostrukturen zur Scheinheiligkeit. Der Scheinheilige hat große Missverständnisse über das Absolute, über GOTT. Vor der Erkenntnis des Absoluten steht die Menschwerdung, die Inkarnation, welche bei einem gewöhnlichen Menschen nicht vollständig geschehen ist.

Ein Phänomen, das ich beobachte in der Beschäftigung mit dem Enneagramm, ist, dass ich immer wieder die Wahrnehmung habe, eigentlich am Anfang zu stehen und wieder ganz neu etwas zu sehen, das ich schon zu wissen glaubte. Da schätze ich das Enneagramm sehr, weil sich immer wieder eine neue Schicht zeigt und ich in die Wachheit gebracht werde, ganz neu hinzuschauen. Das hat für mich einen großen Wert.

Für das Enneagramm gilt das, was vermutlich für andere metaphysische Konzepte auch gilt: Je länger ich mich mit dem Enneagramm beschäftige, desto weniger weiß ich darüber. Ich erinnere mich auch selber an meine erste Zeit der Lektüre, das war in den 80er Jahren. Nach dem Lesen eines Enneagramm-Buchs kommt dieser überhebliche Geist daher und denkt: „Ja, das ist doch alles klar- neun Persönlichkeiten.“ Es folgen euphorisierende erste Einblicke in die geistige Welt und ihre verborgenen Zusammenhänge. Die Brillanz dieses Systems tut ihre betörende Wirkung. Doch dann kommt in der weiteren Beschäftigung eine schwierigere Phase. Die erste Phase ist begleitet von einem Hochgefühl, denn du beginnst zum ersten Mal gewisse, bis dahin verborgene Tendenzen in Menschen zu sehen. Je tiefer du jedoch eintauchst, desto komplizierter wird es. Du bekommst das Gefühl, eigentlich gar nichts verstanden zu haben. Es scheint alles nur ein  oberflächliches Verstehen gewesen zu sein. Sodann wird deine Ernsthaftigkeit geprüft: Willst du es wirklich wissen und über die anfänglichen Belohnungsmomente hinauswachsen oder gibst du dich mit dem Dilettantenwissen zufrieden? Dieses System kann nicht durch ein Buch vermittelt werden.

Ich erinnere mich, dass damals, als ich noch Enneagramm-Sitzungen gab, ganz viele Menschen zu mir kamen und glaubten zu wissen, welcher „Typ“ sie seien. Sie hatten ein Enneagramm-Buch gelesen und es zeigte sich dann ziemlich schnell, dass ihr Verständnis davon, welcher „Typ“ sie glaubten zu sein, doch sehr stark geprägt war von blinden Flecken und sie noch sehr naiv waren, was die gesamte Organisation ihrer Wahrnehmung anbetraf.

Heißt das auch, dass dieser Vorwurf, der dem Enneagramm manchmal gemacht wird, es würde Menschen kategorisieren, in Schubladen pressen, letzten Endes dann nichts mit dem Enneagramm zu tun hat, sondern mit einem Missverständnis von jemandem, der die Information, die das Enneagramm gibt, eben nicht wirklich versteht?

Ich kenne dieses Urteil und es sagt mehr über die Unkenntnis des Urteilenden, als über das Enneagramm. Das Enneagramm ist nur ein Spiegel, der bereits geschehene Kategorisierungen spiegelt. Dafür kann nicht der Spiegel verantwortlich gemacht werden. Gleichwohl besitzt dieses Urteil auch das berühmte „Körnchen Wahrheit“. Ein begrenzter Umgang mit diesem System kann tatsächlich dazu führen, dass ein Mensch sich nun mithilfe des Enneagramms erneut kategorisiert, wenn er sagt: „Ich bin eine Sechs“. Oder „Ich bin eine Vier“. Wir nennen das „Refixierung“. Der höhere, spirituelle Sinn in der Anwendung dieses Werkzeugs besteht jedoch gerade in der Auflösung jeglicher Fixierung. Dazu ist die Einbettung des Enneagramms in die Vermittlung einer umfassenden spirituellen Lehre notwendig.

Ich möchte noch einmal zurückkehren zum Thema „Grenzen“; das finde ich so wichtig auf dem inneren Weg. Und hier hat mir das Enneagramm geholfen, Grenzen überhaupt wahrzunehmen, stehenzubleiben und dann auch weiterzugehen, weil mir zum Beispiel bewusst wurde, dass Widerstand eine Grenze ist, die auftauchen muss. Dass es okay ist, dass sie auftaucht und dass es die Möglichkeit gibt weiter zu gehen, als der Widerstand vorgibt. Könntest du noch ein paar andere Beispiele nennen von Grenzen aus fixierten Welten, an die jemand stößt und worin dann auch eine Chance liegt?

Ja, es gibt drei Arten von Grenzen, die sich aus den drei Ebenen beschreiben, die das Enneagramm aufzeigt. Die Grenzen, an denen die sogenannten Zorn-Fixierungen (9-1-8) stehen, werden durch eine geistige Gegenbewegung geformt. Mit „Gegenbewegung“ ist immer eine Gegenbewegung gegen die Realität gemeint. Ein Nicht-Einverstandensein mit Dem-was-ist. Dieses Nicht-Einverstandensein kann sich auch als unbewusster Akt manifestieren und wird dann Ignoranz genannt. Es geht immer um eine Form von aktivem oder passivem Widerstand, das ist es, was mit Fixierung im Zorn gemeint ist. Es gibt in der geistigen Welt noch eine zweite Form des grenzziehenden Widerstandes, eine Gegenbewegung, die aus der Fixierung in Angst stammt. Die Fixierung in Angst bringt auch eine andere Form des Widerstandes hervor, eine innere Haltebewegung, die wir als Hemmung bezeichnen.

Was ist die dritte Form von Grenze? Du sprachst von drei Formen?

Diese Form der Grenze, die aus unerfüllten Wunschwelten geschaffen wird, ist gänzlich anderer Natur, sie entsteht indirekt. Das Streben nach unerfüllten Wunschwelten (konkrete Wünsche, oder auch ein Ich-Ideal) erzeugt zunächst eine Form der Ent-grenzung, also das Gegenteil einer inneren Grenze. Erst in der zweiten Phase, nämlich dann, wenn die unerfüllte Wunschwelt nicht vollständige Erfüllung findet und mit der Realität kollidiert, erscheint die Grenze.

Das sind, kurzgefasst, drei geistige Kontexte, in denen innere Grenzen aufgezeigt werden. Es kommt, wie bereits erwähnt, in dem Moment darauf an, ob ein Mensch in dem Bewusstseinsstand ist, an dieser Grenze Wirklichkeit von Unwirklichkeit unterscheiden zu können. Kann er das nicht, wird diese innere Grenze zu einer harten Grenze, welche die Lernfähigkeit, die Lernbereitschaft be-hindert, im schlimmsten Fall ver-hindert, und das Fortschreiten des inneren Weges verlangsamt, schlimmstenfalls umkehrt. Eine innere Grenze kann durch Bewusstwerdung zu einem regelrechten Entwicklungssprung im Bewusstsein des Menschen führen, oder sie kann eine Rückentwicklung veranlassen, eine Regression. Aus dieser Rückwärtsbewegung kann sich das Ich im Sicherheitsabstand zur Grenze wieder sammeln und erneut den Mut finden, sich an die Grenze heranzutasten. An dieser Grenze stehend, hat es erneut die Chance, sich ihrer bewusst zu werden, zu unterscheiden und sie zu überwinden.

Und hier hilft ja die Kenntnis über meinen Geist, also die Kenntnis darum, welcher Geist da eigentlich wirkt.

Diese Kenntnis, welche die Tendenzen dieses Geistes lokalisieren kann, ist sehr wesentlich. Der Schüler des Weges benötigt eine bestimmte Form differenzierter Kenntnis über gerade diese Illusionswelten, die sich als Realität verkaufen. Viele buddhistische Lehrer haben dieses Wissen ungenügend, auch indische advaita-Lehrer haben dieses Wissen ungenügend. Doch was heißt ungenügend? Sie sind daran nicht interessiert. Für eine vollständige Vermittlung der Lehre jedoch, insbesondere für den modernen westlichen Menschen auf dem Weg, kann dieses Wissen sehr wertvoll sein, denn es bewahrt die Menschen davor, in die „Falle des Absoluten“ zu laufen. Diese Falle haben wir bereits besprochen: Höheres spirituelles Wissen wird konzeptuell  verarbeitet, und mental „verstanden“, während die eigentlichen „Hausaufgaben“ des nackten Erfahrungsweges ungemacht liegen bleiben, so dass die Macht des Unter-Bewusstseins nicht gebrochen ist. Das ist ein mühsamer Aspekt des Befreiungsweges: die Macht des Unter-Bewusstseins zu brechen. Nicht die Empfängnis von Liebe und Wahrheit ist der mühsame Aspekt, sondern diese Bereitschaft aufzubringen, genau da hinzusehen, wo sich hässliche Seiten dieser Widerstandswelt des Ichs zeigen. Das Ich ist letztlich immer eine Form von Widerstand. Ein vollständig leeres Ich existiert nicht.

Die paradoxe Natur des Erkenntnisweges beschreibst du als „ein Geschenk, für das wir bezahlen müssen“.

Ja, Liebe und Wahrheit bekommen wir geschenkt, das ist vollkommen anstrengungslos. Aber um die selbstgeschaffenen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, dafür müssen wir bezahlen. Das ist mühsam.

Vielleicht kann auch die Enneagramm-Ausbildung in Menschen überhaupt diese Bereitschaft nähren, diesen, eben auch mühsamen Weg zu gehen?

Bereitschaft ist ein hohes inneres Gut. Bereitschaft, das Alte (die Fixierung) zu verlassen und aufzubrechen in das Unbekannte.

Es braucht also weniger eine Vorkenntnis oder ein Wissen aus Büchern als Bereitschaft für Selbstbegegnung?

Wenn wir diesem unschuldigen Zustand des Kindes in uns offen begegnen können, dann sind wir von dem, was auch in den höheren Lehren als „Bereitschaft“ vermittelt wird, nicht weit entfernt. Es ist die Bereitschaft eines intelligenten Systems, etwas Größeres, Weiteres aufzunehmen und hier ist „das Kind“ auch nur eine Metapher für diesen unschuldigen Geist der Lernfähigkeit und Willigkeit. Denn die Lern- und Aufnahmefähigkeit von Menschen ist zunächst durch grenzziehende Widerstände begrenzt, gerade auch bei Menschen, die bereits sehr viel Halbwissen angesammelt haben und glauben, sie wüssten etwas. Letztlich ist dieser Zustand für jeden Menschen, der ein hohes Maß an Selbst – Aufrichtigkeit mitbringt, zu erlangen.

„Willst du es wirklich wissen?“ Diese Frage begleitet Menschen auf dem inneren Weg. Sie leitet nicht dazu an, Wissen aus Büchern zu sammeln, sondern durch den Erfahrungsweg Wissen aus erster Hand zu erlangen. Das gilt auch dann noch, wenn wir lernen, das Enneagramm auf den menschlichen Geist anzuwenden.

Danke OM.
 

Das Gespräch führte Luna U. Müller, Lehrerin der Enneallionce – Schule für Innere Arbeit

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