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Männer haben kein inneres Kind

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Ulrike Porep im Gespräch mit OM C. Parkin

F: Ich arbeite ja in meinen Gruppen viel mit dem Inneren Kind. Das Interesse für diese Art der Inneren Arbeit scheint bei Männern sehr gering zu sein, es kommen wenige. Jetzt ist meine Frage an dich: Haben Männer denn kein Inneres Kind?

OM: Es scheint so, als wenn der Zugang zum jüngsten Teil der Seele durch die spezifische Konditionierung des männlichen Egos stark behindert wird.

F: Wie sieht denn das männliche Ego aus, dass es so stark im Wege steht? Kannst du das beschreiben?

OM: Das Ego beschreibt ja keine wahre Identität eines Menschen, sondern eine angenommene, entfremdete, überlagernde Identität, kurz: eine falsche Identität. Diese falsche Identität besteht zu einem erheblichen Teil aus überlagernden Selbstbildern. Diese Selbstbilder werden individuell und kollektiv im Zeitstrom weitergegeben und zunächst blind angenommen. Wir haben es bei diesem männlichen Ego mit Selbstbildern zu tun, die ein verzerrtes Bild männlicher Kraft präsentieren. Erstens ist das Bild männlicher Kraft verzerrt, weil ein Bild an sich bereits eine Verzerrung beschreibt, und zweitens ist es nicht vollständig verbunden mit der anderen Hälfte der Seele, nämlich mit dem weiblichen Aspekt der Seele. Es ist also verzerrt und unverbunden zugleich. Diese männlichen Selbstbilder werden von Generation zu Generation weitergegeben. Sie haben Ursprünge, die können Hunderte, Tausende von Jahren alt sein. Diese Selbstbilder sind auch verzerrte Formen von Archetypen. Nehmen wir zum Beispiel den Archetyp des Helden. Dieses verzerrte Selbstbild des Helden präsentiert eine Form falscher Stärke, die nicht mit dem Aspekt der Schwäche in der Seele in Verbundenheit steht. Wenn du dich hineinversetzt in dieses heroische Selbstbild, dann steht es bereits in einem gewissen Gegensatz zu dem, was das sogenannte Innere Kind beschreibt. Wir dürfen nicht vergessen, das sogenannte Kind ist grundsätzlich eher weiblich, weil der Mensch in seiner Evolution zunächst mit der weiblichen Kraft Bekanntschaft macht, um sie kennenzulernen, um sie zu integrieren, und erst in einer nächsten Phase dann stärker mit der männlichen Kraft in Verbindung steht, um sie kennenzulernen und zu integrieren. Das sogenannte Kind ist also grundsätzlich eher mit dem weiblichen Aspekt der Seele verbunden.

F: Dieser weibliche Aspekt der Seele hat ja in der Kindheit eine bestimmte Überlagerung, nämlich diese Vorstellung von Ausgeliefertsein, vom Opfer-Sein von irgendwelchen äußeren Mächten, die stärker sind. Die Tendenz ist dann, das zu überwinden in Richtung Stärke. Ich habe das Gefühl, dass die Überwindung des Schwächegefühls, dieses Ausgeliefertseins, bei Männern noch viel angestrengter abläuft als bei Frauen. Als ob sie das nie wieder berühren wollten, dieses Gefühl von Hilflosigkeit, was ja auch mit einer Geschichte verbunden wird, wem man da so ausgeliefert ist. Und dann geschieht die Kompensation. Als ob das ein Gebäude wäre, das nicht wieder angetastet werden darf.

OM: Ich habe ja im Buch „Intelligenz des Erwachens“ die Schülerschaft des Weges in Anlehnung an eine einfache Dreiheit der Evolutionsstufen des Menschen in drei Phasen eingeteilt, weil das plakativ und so schön nachvollziehbar für alle ist. Eine kindliche Phase, eine pubertäre Phase und eine erwachsene Phase, in der die eigentliche Schülerschaft des Weges beginnt. Bedeutet auch, in der die Schülerschaft des Selbst erst beginnt. Wir ordnen jetzt der pubertären Phase die Bekanntschaft mit der männlichen Seele zu. In dieser Phase herrscht eine starke Verwechslung zwischen Unabhängigkeit und Freiheit vor. Die Entwicklung des männlichen Egos ist in der Masse der Menschen in der zweiten Phase gestrandet. Es gilt natürlich nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen. Es gilt dennoch primär für die Repräsentanten männlicher Kraft, das sind männliche Formen, also Männer. Männer sind massenhaft in dieser zweiten, pubertären Phase der Unabhängigkeit gestrandet, in der zweierlei Aspekte vorherrschen. Der erste ist: Die vorherige, kindliche Phase ist nicht vollständig integriert. Zweitens: Der Weg in die nächste Phase ist blockiert. Die Fixierung in der pubertären Phase hat diese beiden Aspekte. Es braucht tatsächlich in dieser geistig pubertären Entwicklungsstufe eine Bereitschaft, von hier aus die sogenannte bewusste Regression zu vollziehen. In der bewussten Regression findet ein nachgeholter Integrationsprozess statt. Du kennst ja meine Aussage, dass in der sogenannten ersten Inkarnation des Menschen1 im Grunde eine desintegrierte Inkarnation abläuft, die einzelne Entwicklungsstufen des Menschen nicht vollständig integriert hat und es somit zu einer partiellen und disharmonischen Entfaltung kommt.

Das Konzept der bewussten Regression ist ein sehr wesentliches Konzept in der Evolutionsphilosophie, es beschreibt, dass der Geist einen bewussten Rückschritt in Richtung des Ursprungs unternimmt, um dort Heilung zu erfahren. Wenn der Mann ausschließlich von der pubertären Phase aus mittels einer Willensanstrengung versucht, in das pseudo-erwachsene Leben zu streben, so, wie das gewöhnlich der Fall ist, dann können partiell, insbesondere im äußeren, gesellschaftlichen Leben erwachsene Eigenschaften erworben und ausgeprägt werden, aber es kommt nicht zu einer ganzheitlichen Entwicklung, wie sie der Integrale Weg beschreibt. Die ist nur möglich, wenn alle Entwicklungsstufen des Menschen vollständig in fühlender Anwesenheit integriert sind und der Prozess dann ganzheitlich von einer Stufe in die nächste wechselt. Der durchschnittliche erwachsene Mensch hat ein emotionales Alter von 4-5 Jahren.

F: Solange Männer sich aber in dieser falschen Erwachsenenwelt einigermaßen zurechtfinden und glauben, sie seien erfolgreich, ist ja wahrscheinlich die Bereitschaft, sich dem fühlenden Wesen aus der Kindheit wieder zuzuwenden, sehr gering. Also müsste es erstmal überhaupt zu einem Leiden kommen, zu einem Scheitern dieses Versuchs der Kompensation, dieser Falschheit, sich irgendwo aufzuhalten, wo es sich stark anfühlt. Ist es so, dass es bei Männern länger braucht, bis sie leiden? Denn es kommen ja mehr Frauen hierher. Haben sie weniger Zugang zum Leiden, auch zu der Einsicht, dass es so nicht funktioniert, dass sie nicht weiterkommen?

OM: Das männliche Ego sitzt seit Jahrtausenden auf dem falschen Thron. Natürlich ist nicht die gesamte Evolution pauschal von einem Matriarchat in ein Patriarchat gewechselt. Es gab Epochen - und das gibt es bei nicht so strenger Auslegung sogar heute noch2 - wo Matriarchat und Patriarchat in verschiedenen Kulturen gleichzeitig existierten. Aber die abendländische Gesellschaft der Moderne ist immer noch vom männlichen Ego dominiert, natürlich in Männern und in Frauen. Stichwort „die Leistungsgesellschaft“. Die Leistungsgesellschaft an sich ist ein Konstrukt des männlichen Egos. Im weiblichen Aspekt der Seele spielt die Leistungsgesellschaft keine bedeutende Rolle. Von diesem Thron muss das männliche Ego fallen. Man könnte von einer falschen Löwennatur des männlichen Ichs sprechen, die die wahre Löwennatur des Selbst imitiert. Erinnern wir uns an meine Anmerkung von eben, dass das Ego an sich ein Zerrbild einer authentischen, ursprünglichen Seinsform ist, die sich in Archetypen manifestiert. Wir befinden uns kollektiv an einem Übergang. Es gibt in unserer Zeit zunehmende Verwirklichung auch weiblicher Kraft, die auch wiederum zum Teil in Zerrbildern auftritt, wie wir es in bestimmten Ausprägungen des Feminismus wiedererkennen können. (Feminismus ist keinesfalls gleichbedeutend mit einem Eintreten für die weibliche Seele) Aber grundsätzlich befinden sich größere Teile der Gesellschaft an einem Übergang und ich habe des Öfteren davon gesprochen, dass Frauen in der spirituellen, also der höchsten, der inneren Entwicklung unserer Gesellschaft eine immer bedeutendere Rolle spielen werden. Wenn die Männer so weitermachen wie im Moment, dann sowieso.

Um von einem falschen Thron abzusteigen, dazu braucht es eine hohe Tugend des Inneren Weges und die nennt sich Demut. Es ist von Bedeutung auch den Zusammenhang zwischen De-Mut und  Mut zu erkennen, die sich in der Seele nicht ausschließen. Aber in der verzerrten Welt des Egos, in der ein Mensch lebt, schließen diese Qualitäten sich aus. Und wenn De-Mut und Mut nicht gemeinsam auftreten, dann wird daraus Hoch-Mut. Mut wird dem Helden zugeordnet und aus der Perspektive des männlichen Egos stellt sich die Frage:

„Wie kann denn Mut gemeinsam mit Demut existieren? Demut ist doch nur ein Weg zurück in dieses hilflose Opferdasein, das ich als Kind versuchte, mit (falscher) Stärke zu überwinden.“

Das ist die Sicht des Egos. Das ist keine reife Sicht des Inneren Weges. Das ist auch keine Sicht, die in der Lage ist, den Zustand menschlichen Leidens – so wie es die Weisheitslehre versteht – zu überwinden. Die Tatsache, dass dieses männliche Ego auf einem machtvollen falschen Thron sitzt, begrenzt auch sehr stark das Leidensbewusstsein und damit auch den Zugang zu dem Konzept des so wertvollen bewussten Leidens3. Wenn du dich jetzt hineinversetzt in die Position eines Herrschsüchtigen, eines Herrschers, eines falschen Königs, einer stolzen, machtvollen inneren Position, dann entspricht das Einnehmen dieser Position dem, was ich den „Heilungsweg des einfachen Menschen“ nenne. Der in seiner Unbedarftheit glaubt, sich auf diese Weise dem in dem Kind so offenbaren Leid entziehen zu können. Die einfache Logik des männlichen Egos spricht: „Ich bleibe bis an mein Lebensende in einer möglichst machtvollen inneren Position unter Ausblendung des sogenannten Inneren Kindes und seines fühlenden Wesens. Je mehr Macht in Form von körperlicher, emotionaler, geistiger Macht (Wissen ist Macht!) ich ansammle, desto weniger wird mir dieses Leiden nahekommen.“ In dieser einfachen Sichtweise zeigt sich, warum das männliche Ego in der spirituellen Entwicklung häufig zurückliegt. Frauen haben den „Vorteil“, dass ihnen ihrem Wesen nach einer der großen Befreiungswege, nämlich der Bhakti –Weg4, näher und einfacher zugänglich ist. In der Liebe ist Demut bereits verwirklicht und muss nicht mühsam erworben werden.

F: Was du jetzt sprichst, ist ja, finde ich, sehr einleuchtend. Auch Männer könnten das möglicherweise nachvollziehen, aber der Schritt, sich wirklich auf diese Ebene zu begeben, wo sie etwas von der falschen Stärke hergeben müssen, das ist immer noch schwierig. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass man bei Männern sehr viel mehr Geduld braucht und über das mentale Wissen erstmal einen Zugang schaffen muss. Sodass Aufklärung für Männer noch mehr Bedeutung hat als für Frauen, die sich eher in so ein emotionales Abenteuer stürzen.

OM: Es ist ja nicht falsch und nicht an sich ein Hindernis, das männliche Ego mit wahrem Wissen zu füttern. Auch wenn die Aufnahmefähigkeit – das ist jedem Ego zu eigen – an Grenzen stößt. Aber es geht auch für das männliche Ego darum – nach den Gesetzmäßigkeiten des Inneren Weges – es vom Feind zum Verbündeten zu machen. Es ist Teil dieses Prozesses, die Wissensanfragen, die letztlich aus dem wahren Wissensdurst der Seele entspringen, zu beantworten und das Ego auf diese Weise zunächst mental tiefer zu führen. Sodass es auch aus der mental abgekoppelten, rationalen Welt zu einer Verbindung mit darunterliegenden Herzensqualitäten kommen kann.

F:   Spielt das Thema Angst und Angstvermeidung nicht eine besonders starke Rolle bei Männern? Dass sie sich gar nicht eingestehen können, dass sie überhaupt Angst empfinden?

OM:   Das bringt uns erneut zu dem Verständnis des Archetypen des Helden und des Heldenmythos, der das männliche Ego seit Jahrtausenden bevölkert und umtreibt. Wenn wir in das Enneagramm der Charakterfixierungen5 schauen, dann erkennen wir nicht ohne Verwunderung (und ich verzichte jetzt auf die differenzierte Herleitung), dass im Grunde Männer viel mehr Angst haben als Frauen. Das ist jetzt zwar sehr pauschal und vereinfacht ausgedrückt, aber es ist interessant zu sehen im Enneagramm, dass das System Angst zutiefst ein System des männlichen Egos ist. Es ist eingebunden in den scheinbar objektiven Rationalismus der modernen Gesellschaft, auch sogenannter Wissenschaftlichkeit; ihr falsches Versprechen von Sicherheit durch Messbarkeit ist häufig ein fester Bestandteil des rationalisierten Systems Angst. Was dieses männliche System Angst im Kern ausmacht? Dass die Angst selbst gar nicht gefühlt werden kann.

Es ist die eigentliche Aufgabe des Helden, dass er sich aus dem System Angst befreit. Das ist im Grunde die eigentliche Aufgabe und der Sinn des Heldenmythos. Nur ohne das Wissen verborgener geistiger Gesetzmäßigkeiten auf dem Weg und ohne einen kompetenten Lehrer ist es für die Menschen schwierig, sich aus diesem System zu befreien. Denn der gewöhnliche Mensch, wie ich zuvor schon sagte, wird jetzt versuchen, die Angst in Mut zu verwandeln, indem das Ego stark emotionalisierte irrationale Angstwelten, die alle im Inneren Kind beherbergt sind, durch Abwehrmechanismen überwindet und in eine falsche Stärke verwandelt, in ein pseudo-erwachsenes Leben. Der innere Weg spricht aber nicht von einer Verwandlung von Angst in Mut, sondern, wie ich es in dem Buch über die Bedeutung von Angst auf dem inneren Weg6 ausgedrückt habe, von einer Verwandlung von Angst in Angst-Mut. Das ist etwas grundsätzlich anderes: Wahrer Mut ist nur inmitten der Angst zu finden.

F: Das bedeutet also, den Mut zu haben, zur Angst zu stehen. Das braucht Mut.

OM: Nicht nur zur Angst zu stehen, sondern sie zu fühlen und zwar vollständig und nackt. Was das männliche Ego zunächst nicht wahrhaben oder begreifen will: Der eigentliche Mut wird dazu benötigt, um der Angst zu begegnen, nicht um die Angst zu überwinden. Ein fataler Irrtum, an dem aber die Masse der Männer leidet. Und Frauen natürlich auch, denn auch Frauen haben ein männliches Ego.

F: Es gibt ein Lied von Herbert Grönemeyer, wo er diese prekäre Situation der Männer darstellt: „Männer weinen heimlich“. Wie kann man Männer überhaupt dazu bewegen, sich zu sehen als jemanden, der einem inneren Zwang folgt: der falschen Stärke? Dass es gar nicht selbstbestimmt ist, sondern von einer Idee des Über-Ichs „Ich muss stark sein“, bestimmt ist? Das ist ja gar kein inneres Bedürfnis, sondern ein Zwang. Wie können Männer an diese Erlaubnis kommen, sich auch mal so zu zeigen, wie ihnen wirklich zumute ist?

OM: Was den Befreiungsweg der Menschen angeht, gelten für Männer keine anderen Gesetze als für Frauen. Das, was wir das männliche Ego nennen oder das weibliche – das sind im Grunde nur zwei Seiten einer inneren Falschheit, die die Weisheitslehre als das Ego beschreibt. Die Regeln, die auf dem Inneren Weg gelten, gelten für beide. Und das bedeutet bedingungslose, radikale Selbstehrlichkeit, um ein Lügenkonstrukt aufzulösen, das aus falschen, angenommenen, verzerrten Identitäten besteht. Ob diese Identitäten nun aus männlichen oder weiblichen Zerrbildern bestehen, spielt aus Sicht des Inneren Weges letztendlich überhaupt keine Rolle. Männer müssen das gleiche tun wie Frauen auch. Sie haben es mit einem Ego zu tun, das als innerer Gegner auf dem Weg der Erkenntnis in Erscheinung tritt. Auf dem Weg des Wissens wird dieses Ego durch Erkenntnis bezwungen. Ihm wird der Kopf abgeschlagen. Auf dem Weg der Liebe wird es geschmolzen. Die Frage „Was ist es, was ich wirklich will?“ ist auf beiden Wegen von großer Bedeutung für den inneren Menschen…

F: …und eine Form, sich selbst ins bewusste Leiden zu bringen. Dieses „ich muss“ - es ist den Männern ja wahrscheinlich gar nicht bewusst, dass sie einem Zwang folge, sondern sie glauben, sie gehen einen guten Weg. Dieser Zwang ist für mich der Moment, wo deutlich wird: Das ist ja gar nicht das, was ich wirklich will. Wie kommt man da dran?

OM: Es ist tatsächlich so, dass das männliche Ego sehr stark mit dem Über-Ich identifiziert ist. Und dass das sogenannte Über-Ich als ein wesentlicher dominanter Aspekt dieser gesamten Entität entscheidend ist, um die Heimat des männlichen Egos in dieser inneren Konstruktion zu verstehen. Die Zwanghaftigkeit und die Herrschsucht sind im Über-Ich beheimatet. Das Unter-Ich ist dem ausgesetzt. Der Gestalttherapeut Fritz Perls, ein Schüler von Wilhelm Reich, sprach vom topdog und vom underdog.

F: Dieses Unter-Ich ist dann also das Innere Kind?.

OM: Da ist das Innere Kind und es ist stark mit dem weiblichen Ego verbunden.

F: Oder mit dieser Opfer-Perspektive.

OM: Da findet sich die Opfer-Perspektive, ja. Das Über-Ich ist die Täterperspektive.

F: Die Frauen kommen ja, weil sie sich ganz oft als Opfer fühlen, auf den Weg. Und diese Opferperspektive ist bei Männern ja gar nicht da.

OM: Die ist massiv unterdrückt. Was aus der Sicht ihres Egos wie ein großer Vorteil erscheint, sodass sie ihre Frauen auf den Weg und in die Therapie schicken können. Ein Phänomen, das mir sogar bei Schülern begegnet ist. Aus Sicht des Weisheitsweges wird das zu ihrem fatalen Nachteil und es führt kein Weg daran vorbei, den falschen Thron des Über-Ichs zu verlassen und vorübergehend in die Opferidentität abzustürzen. Wenn das aber in Diensten der bewussten Regression7 geschieht, ist es kein Scheitern, sondern ein Heilungsschritt und letzten Endes sogar ein Vorgang, welcher der Erhöhung der zur Verfügung stehenden inneren Kraft dient.

F: Aber um das zu erkennen, muss man ja erstmal scheitern.

OM: Ja.

F: Also ist Scheitern ein Ort, wo etwas möglich wird, von wo aus es weitergehen kann.

OM: Ich habe immer wieder betont, dass das Scheitern ein willkommener und wesentlicher Akt des Inneren Weges ist. Ohne zu scheitern, macht das Ego einfach nur weiter wie bisher und es gibt keine Möglichkeit anzuhalten. Wenn aus der Sicht des Egos alles gut läuft, woher sollte ein Impuls für Transformation auftauchen? Und damit sind die kognitiven Fähigkeiten im Dienste des Weges sehr beschränkt. Ich habe in dem Buch „Intelligenz des Erwachens“ ausgeführt, dass die Männer durch dieses Leben in den übertragenen falschen Bildern männlicher Kraft dazu tendieren, sich zu veräußerlichen und sich in der äußeren Welt zu verlieren. Es sind schließlich im Wesentlichen Männer, die dafür verantwortlich sind, dass die Menschheit durch ein fehlgeleitetes Wachstumsideal die Erde an die Grenzen führt. Man kann sagen, das männliche Ego führt den Planeten an seine Grenzen und zum Teil leider auch darüber hinaus. Dieses männliche Ego führt zu einer starken Fehlleitung männlicher Kraft, die dann für ihre eigentliche Aufgabe auf dem inneren Weg nicht mehr zur Verfügung steht.

F: Mir kommt noch eine Idee, woran es liegt, dass Männer diesen Weg nicht gehen. Oft ist es ja so, dass Frauen, die ja auch immer noch fixiert sind auf den Wunsch, geliebt zu werden, die Männer auch in Ruhe lassen mit ihren Ideen über Erfolg. Sie schonen die Männer, um geliebt zu werden. Ich habe das Gefühl, je mehr die Frauen sich auf den Weg machen, desto mehr kommen auch die Männer ins Leiden, weil dieser unausgesprochene Deal in der Partnerschaft dann nicht mehr so funktioniert.

OM: Eine gewöhnliche Partnerschaft zwischen Mann und Frau beinhaltet ja einen Pakt. Dem geliebten Partner vollständig die Wahrheit über seine Welt zurückzuspiegeln ist eine Bedrohung der Partnerschaft. Geliebt werden zu wollen, das ist ein häufiges, tatsächlich auch durch das Enneagramm bestätigtes Phänomen in der Frau, weil viele Frauen in der unerfüllten Liebe verhaftet  sind, unvergleichlich mehr als Männer. Die Frau, die geliebt werden will, kann in dieser Haltung gar nicht die Wahrheit sprechen und wird dazu tendieren, um den Mann nicht zu verlieren, sein Ego zu schonen und damit einen in ihrem Herzen unbeabsichtigten Dienst an seinem Ego zu leisten und ihn darin zu bestärken, auf dem falschen Thron falscher Leidensfreiheit sitzen zu bleiben. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass diese Konstellation, die wir hier beschreiben, eine massenhafte Konstellation ist und nicht nur für einzelne Paare gilt. Selbst Frauen, die nicht, wie im Enneagramm sichtbar, auf einer emotionalen Ebene fixiert sind8, werden diese Tendenzen haben, weil das weibliche Ego diese Tendenzen grundsätzlich hat, sodass diese Konstellation massenhaft verbreitet ist.

Zusammenfassend kann ich sagen: Diese individuelle, wie kollektive Situation des männlichen Egos, welche die Verinnerlichung und letztlich Auflösung und Transformation behindert, führt zu der bereits in dem Buch „Intelligenz des Erwachens“ beschriebenen Auswirkung: dem Hinterherhinken von Männern in der spirituellen Entwicklung dieser Gesellschaft.

F: Aber sie hinken dann wenigstens mal hinterher, sie kommen in Bewegung…

OM: Es kommt immer ein Moment des bösen Erwachens. Das bezieht sich individuell auf einzelne Geister und auf ganze Gesellschaften. Denken wir an die ökologische Katastrophe, in der wir uns viel zu langsam bewegen, um gegenzusteuern. Auch Männer werden in der Lage sein, dieses Geschehen lange zu ignorieren, aber wie gesagt, für jeden kommt irgendwann das böse Erwachen. Aus Sicht des Weisheitsweges ist dieses Erwachen allerdings gar nicht „böse“.

F: Ich wollte damit sagen, es ist ja gut, dass sich schon mal Frauen langsam in Bewegung setzen.

OM: Ich habe des Öfteren die Situation erlebt, dass eine Frau die Schülerschaft des Inneren Weges einging und begann, sich weiterzuentwickeln, während ihr Mann zu Hause saß. Die geistig-emotionale Entwicklung klaffte immer mehr auseinander, bildete irgendwann eine unüberwindbare Kluft und es kam dann zu Konflikten, die zu einer Trennung führten. Früher oder später muss es zu einem Crash kommen. Natürlich kann dieser Crash dazu führen, dass der Mann vom falschen Thron stürzt, dass er die Haltung selbst in sich findet, einen Weg zu gehen, sodass es nicht zwangsläufig zu einer Entzweiung kommen muss. Aber ich habe diese Geschichte in den letzten 25 Jahren häufiger erlebt, dass Männer zurückblieben. Sie glaubten nach wie vor, sie hätten das nicht nötig, und die Frau entwickelte sich einfach weiter. Selbstverständlich ist es umgekehrt genauso und ich muss noch einmal betonen, dass wir in diesem Gespräch eine äußerliche Perspektive auf „Männer“ und „Frauen“ einnehmen, was ich normalerweise nicht tue. Denn das männliche Ego, um das es hier geht, ist nicht gleichbedeutend mit „dem Mann“, es kommt auch in der Frau vor. Dennoch ist die Identifikation im Mann gewöhnlich unvergleichlich stärker.

Aber wir müssen noch über etwas Anderes, über etwas ganz Wichtiges sprechen. Wir haben uns ja dem angenähert, woher dieses Nachhinken von Männern stammt. Wir müssen nochmal über Autorität sprechen, Bezug nehmend auf diese Dreiteilung zu Beginn, wo ich sagte, dass das männliche Ego massenhaft in dieser zweiten, sogenannten pubertären Entwicklungsstufe hängt. In dieser Entwicklungsstufe ist es ja so, dass die Autorität sich nach wie vor in einem projizierten Zustand befindet. Diese pubertäre Entwicklungsstufe ist sehr stark von einer - neutral gesagt – Abgrenzung, einer Abgrenzungsphase im Dienste eigener innerer Entwicklung von Autorität gegenüber dem Vater geprägt. Die Realität sieht aber so aus, dass das Ego zu großen Teilen diese notwendige Abgrenzungsphase nicht als wirkliche Übergangsphase zur Verinnerlichung realisiert, sodass es in dieser pubertären Phase steckenbleibt, die nach wie vor veräußerlichte Autorität des Vaters bekämpft und ihr offen oder latent feindselig gegenübersteht. Und sich diese Position noch als „Unabhängigkeit“ verkauft. Wie du dir vorstellen kannst, ist das eine Haltung, die mit den höchsten Inneren Wegen, namentlich auch dem Guru-Yoga9 nicht in Einklang zu bringen ist. Guru-Yoga kann nur gegangen werden, wenn auch die Liebe zur wahren Autorität des Vaters verinnerlicht ist, auch wenn sie zunächst beispielsweise in einer Schüler-Lehrer-Beziehung zum Teil noch veräußerlicht ist. Aber du erinnerst dich an meine Aussage: Die Schüler-Lehrer-Beziehung ist die einzige Beziehung, die die Autorität vollständig nach innen zurückreflektiert. Das ist bei Kind-Eltern-Beziehungen nicht der Fall. Wer sich in einer pubertären Haltung fixiert aufhält, hat ja die kindliche Haltung, die Infantilität im Autoritätsverhältnis nicht vollständig verlassen. Ich glaube, das ist ein ganz großes Hindernis auch für viele Männer, denn die falsche Autorität ist ein Merkmal des falschen Herrschers, des falschen Inthronisierten, der diese persönliche Autorität nicht aufgeben will und deswegen zwangsläufig höherer, unpersönlicher Autorität latent feindselig gegenüberstehen muss.

F: Um nochmal ganz zum Anfang zurückzukommen, kann man sagen, wenn jemand sich nicht für das Innere Kind interessiert, kommt er auch nicht wirklich ins erwachsene Menschsein? Das Innere Kind beschreibt ja keine Regression auf eine Stufe, wo man sich wie ein Kind fühlt und benimmt, sondern es ist eine Notwendigkeit für den Inneren Weg. Also keine therapeutische Veranstaltung, sondern ein Tor für den integralen Weg und die integrale Entwicklung.

OM: Ja, ein Tor für den integralen Weg. Ein wesentliches Tor. Denn die, die nicht werden wie die Kinder, werden nicht ins Himmelsreich kommen.

F: Jetzt ist nur noch die Frage: Wie kann man Männer dafür interessieren? Wenn sie hören, was du jetzt gesagt hast, könnte ja sein, dass da ein Funke überspringt. Oder gibt es sonst irgendwelche notwendigen Mitteilungen, um Männer zu interessieren?

OM: Wichtig ist auch, auf dem integralen Weg mehrere Schritte voneinander zu trennen. Diese Verwirklichung der Unschuld des Inneren Kindes ist nur ein Schritt. Der bewusste Schritt in die innere Schwäche ist der erste Schritt. Aber der Integration der inneren Schwäche (Yin) folgt als nächster Schritt die Eröffnung wahrer Stärke, die Eröffnung des inneren Yang – die eigentliche Verwirklichungsabsicht des männlichen Egos. Natürlich ist der männliche Aspekt der Seele an Kraft interessiert. Dieses Interesse muss ihm nicht ausgetrieben werden. Im Gegenteil, es braucht Korrekturen im Verständnis. Missverständnisse müssen ausgetrieben werden, aber nicht die männliche Kraft selbst. Die männliche Kraft muss sich auch nicht dem weiblichen Ego unterwerfen. Auch das wäre ja ein nächstes potentielles Missverständnis, das spricht: „Soll ich mich jetzt etwa allen Frauen unterwerfen? Musste ich ja damals schon, als ich geboren wurde. Das will ich nicht nochmal erleben.“ Das Ego muss sich dem SELBST unterwerfen, nicht die Frau dem Mann, oder umgekehrt.

F: Für mich ist wichtig zu sehen, dass der Weg der Kraft verbunden ist mit dem Abstieg in die Schwäche. Und dass das nicht heißt, dass der Innere Weg etwas schwächt, sondern letzten Endes die Kraft weckt. Und das könnte für Männer ja interessant sein.

OM: Der Innere Weg ist ein Weg, der das Ego schwächt und die Seele stärkt. Bis es zum großen Erwachen kommt, in dem nur mehr das SELBST ist. Es wird ja nicht nur das männliche Ego geschwächt, auch das weibliche Ego wird geschwächt. Aber das wäre ein Thema für ein nächstes Gespräch.

F: So, wie du das zum Schluss beschrieben hast, könnte es ja auch für Männer anziehend sein.

OM: Das würde ich mir wünschen, denn der Erwachensweg ist nicht für Männer, oder für Frauen, sondern für den Menschen.


Das Interview entstand im Dezember 2020

 

Anmerkungen:

1Die erste Inkarnation entspricht der natürlichen physischen und psychischen Evolution, die alle Menschen nach der körperlichen Geburt durchlaufen. Obgleich der Mensch Intelligenz und viele Fähigkeiten erwerben kann, entwickelt er sich aus spiritueller Sicht zu einer konditionierten, mechanischen Maschine, die im Tiefsten unbewusst ist. Erst durch das konsequente Gehen eines inneren Weges der fortlaufenden Selbsterkenntnis durch innere Arbeit kann er in der zweiten Inkarnation zum wahren Menschsein in Gott geboren werden.

2So sind z.B. die afrikanischen Kulturen viel stärker matriarchal ausgerichtet als die christliche Kultur, die über Jahrhunderte von den patriarchalen Strukturen der katholischen Kirche beherrscht wurde. Dadurch sind in den afrikanischen Kulturen die Urkräfte der weiblichen Seele auch heute noch viel stärker wirksam. Das gilt jedoch nicht für alle Lebensbereiche, darunter z.B. Politik und Wirtschaft, die patriarchal dominiert sind.

3Die Menschen glauben an äußeren Umständen zu leiden und sind sich allgemein ihres wahren Leidens, d.h. ihres Getrenntseins von Gott, vom Selbst, nicht bewusst. Sie leiden daran, dass sie nicht wirklich leiden, nicht wirklich fühlen, weil sie vom Verstand beherrscht werden. Der innere Weg führt den Menschen durch innere Arbeit, die u. a. die vollkommene Öffnung des Herzzentrums und die Aufgabe der Kontrolle über das fühlende Wesen beinhaltet, in die Erkenntnis ihres wahren Leidens, in die Hingabe an das totale, bewusst gefühlte Leiden, das bereits einen Transformationsprozess darstellt, in dem sich Leiden in das reine Quellengefühl Schmerz und schließlich in die Liebe selbst wandelt. Die totale Hingabe an das Leiden hat jedoch nicht das Geringste zu tun mit der Leidensverehrung der Kirche.

4 Einer der drei traditionellen spirituellen Wege zum Erwachen. Karma-Yoga ist der Weg des selbstlosen Handelns, Bhakti-Yoga der Weg der liebenden Hingabe und Jnana-Yoga der Weg der Erkenntnis und des höheren Wissens. Letztendlich gehen alle drei Wege ineinander über und führen zum gleichen Ziel. Übergeordnet ist der 4. Weg, der von Anfang an alle drei Wege integriert. Im christlichen Kulturkreis entspricht dem Bhakti-Yoga die mittelalterliche Braut-Mystik, die in Gott oder Christus den wahren Geliebten oder Bräutigam sieht.

5 Eine niedere Ebene der Kosmologie des Enneagramms, die die Egostrukturen der konditionierten Persönlichkeit eines jeden der neun Ennea-Typen beschreibt und die „Blase“ seiner persönlichen, nicht-realen, aber von ihm für wirklich gehaltenen Welt abbildet.

6  Angst ist im üblichen Verständnis der Menschen eine Grundkraft des Leidens, die man beseitigen möchte oder vor der man wegläuft. Auf dem inneren Weg wird dieses erlernte Konzept von Angst radikal infrage gestellt. Es gilt in der Angst den Mut aufzubringen, stehenzubleiben, der Angst ins Gesicht zu sehen und sie nach den Regeln der Selbsterforschung ganz neu zu erforschen. So rückt sie aus dem Dunkel der Vermeidung und Verheimlichung ins Licht des Bewusstseins und kann sich auflösen, indem sie sich letztendlich als eine Illusion erweist.

7  Bewusste Rückkehr zu dem niederen Entwicklungsstand eines Persönlichkeitsanteils, der durch widrige Umstände (Traumata) dort fixiert wurde und die fortschreitende Reifung der übrigen Persönlichkeit nicht mit vollzogen hat. Durch bewusste, fühlende Wahrnehmung kann dieser Teil in der bewussten Regression nachträglich in die Persönlichkeit integriert und die in ihm fixierten Kräfte freigesetzt werden, so dass die Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit den nächsten Entwicklungsschritt vollziehen kann.

8 Die neun Enneagramm-Typen lassen sich entsprechend der drei Zentren des Menschen (Bauch, Herz, Kopf) in drei Gruppen einteilen, von denen die erste durch festgehaltene Energie im physischen Körper, die zweite durch festgehaltene Energie im Emotionalkörper, die dritte durch festgehaltene Energie im Mentalkörper entstanden ist, je nachdem zu welcher Zeit in der menschlichen Entwicklungsgeschichte die Fixierung stattgefunden hat. Die Fixierung auf der emotionalen Ebene, auch Image-Fixierung genannt, erzeugt u.a. den übermäßigen Wunsch, geliebt zu werden, der Welt ein entsprechend liebenswertes Bild von sich zu präsentieren und die Wahrheit diesem Wunsch unterzuordnen.

9   Die bedingungslose Hingabe an die Liebe zu einem Sadguru (einem wahren Lehrer, der das SELBST repräsentiert und uns das spiegelt, was wir wirklich sind) und an seine Führung auf dem inneren Weg in der wahren, d.h. erwachsenen Schülerschaft.

 

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